Mit seinem Triumph im Wimbledon-Final gegen den Australier Mark Philippoussis (7:6, 6:2, 7:6) hat Roger Federer (41) am 6. Juli 2003 die Tür zum Tennis-Olymp aufgestossen. Es ist in seiner letzten Herbst zu Ende gegangenen Karriere der erste von 20 Grand-Slam-Titeln – und wohl der wichtigste. Blick hat sich zusammen mit Weggefährten und seiner Familie auf die Spuren von damals gemacht.
Im schwedischen Städtchen Sundsvall klingelt das Handy von Peter Lundgren (58). Der damalige Coach von Federer geht ran. Und muss beim Erzählen direkt lachen: «Ich hatte nach Rogers erstem Grand-Slam-Titel die schönsten Ferien meines Lebens. Zu Hause in Schweden. Es war herrlich.» In erster Linie habe dies allerdings an der weggefallenen Anspannung gelegen: «Ich habe einfach nur Freude und Erleichterung gespürt. Roger hatte es sich so verdient. Und es war auch eine Erlösung nach all der Kritik, die er sich anhören musste.»
Rückblickend kaum vorstellbar: Es gibt tatsächlich eine Zeit, in der sich Federer auf der ganz grossen Bühne schwergetan hat. In den fünf Grand-Slam-Turnieren vor seinem ersten Triumph in Wimbledon scheidet er dreimal in Runde eins aus. Nach seiner Startniederlage in Roland Garros wenige Wochen zuvor rauscht es gewaltig im internationalen Blätterwald.
Lundgren sagt: «Roger war damals schon die Weltnummer fünf. Es kamen viele Leute auf mich zu und wollten wissen, was los sei. Ich hatte das Gefühl, dass man auch mir die Schuld gab. Doch ich spürte die Unterstützung von Rogers Team. Und auch von seiner Familie.»
Anruf bei Robert Federer (77), Rogers Vater. Auch er erinnert sich: «Der Tenor war überall: ‹Endlich, endlich!› Die Leute fragten sich schon, ob es überhaupt irgendwann einmal klappen würde. Doch mit diesem Wimbledon-Erfolg hat er es allen gezeigt. Er hat die Bestätigung geliefert, dass er es kann.»
Dem pflichtet auch Marco Chiudinelli (41) bei, Ex-Profi und langjähriger Freund von Roger Federer: «Dass es Roger kann, wussten wir alle. Es war nur eine Frage der Zeit. In diesem Punkt geht es allen Sportlern gleich. Erreicht man ein grosses Ziel, fällt eine Last ab. Bei Roger hat es dazu geführt, dass er irgendwie ein Selbstverständnis dafür entwickelte, seine Erfolge zu wiederholen.»
Chiudinelli spielte damals im Doppel mit dem Kroaten Lovro Zovko. Die beiden schafften die Qualifikation, schieden dann aber in Runde eins aus. Am 6. Juli, Federers grossem Finaltag, war Chiudinelli bereits nach Montreal weitergereist. Er kann seinem Kumpel nur aus der Ferne gratulieren. Federers Entourage ist damals ohnehin noch klein. In jenem Jahr bucht der damals 21-Jährige in Wimbledon nur eine Drei-Zimmer-Wohnung an der Lake Road 10, wohnt da mit Freundin Mirka, Coach Lundgren und Physio Pavel Kovac. Letzterer muss aus Platzmangel im Wohnzimmer schlafen. Mutter Lynette ist beim Endspiel und den Feierlichkeiten dabei, Vater Robert jedoch bleibt wegen der Arbeit in der Schweiz.
Robert Federer bestätigt: «Ich weiss noch gut, wie mich dann die britische Presse angerufen hat und mich fragte, warum ich nicht vor Ort sei. Ich wusste nicht so richtig, was antworten, also sagte ich: ‹Ich muss zu Hause die Katze füttern›.»
Der Boulevard-Zeitung «The Sun» erklärt er damals: «Ich habe den Match daheim mit ein paar Freunden geschaut. Und natürlich bin ich sehr stolz auf ihn.» Daraufhin witzelt die «BBC» in einer Glosse: «Wenn doch nur auch Katze Ginger vor Ort gewesen wäre.» Überhaupt ist Federer in jenen Tagen international in aller Munde. Der Medienrummel um den jungen Baselbieter ist riesig. Plötzlich wollen alle etwas von ihm. Und auch die Schweizer Medien gewinnen auf einmal an Relevanz in der Tennis-Welt.
Jann Billeter (51), der damals den Wimbledon-Final für SRF kommentierte, bestätigt: «An unserer Kommentatoren-Box hat es immer wieder geklopft. Viele Journalisten-Kollegen fragten nach Hintergründen, alle wollten Infos zu seiner Familie. Federer hat nicht nur für den Schweizer Sport Pionierarbeit geleistet – als erster Mann mit einem Grand-Slam-Titel. Er hat auch dem Schweizer Fernsehen und den Schweizer Medien generell viele Türen geöffnet.»
Billeter, damals noch ein junger Kommentator, habe «gestaunt», was der Federer-Hype auslöste. Auch bei ihm selbst: «Rückblickend ist das eine der intensivsten Erfahrungen in meinem Leben als Sportjournalist. Dass das Ganze in Wimbledon passierte, machte alles noch spezieller. Ausgerechnet an diesem Ort – mit dieser besonderen Geschichte, die man sofort spürt, wenn man den ersten Fuss auf die Anlage setzt. Ich weiss noch gut: Ich war sehr nervös vor dem Finalspiel. Gleichzeitig wollte ich aber auch nichts vorbereiten für den Fall seines Sieges – es sollte spontan passieren.»
Die ganze Sportwelt schaut an diesem Sonntagnachmittag nach London. In der Schweiz liegt die TV-Quote bei über 600’000, bei einem Marktanteil von über 60 Prozent.
Nachfrage bei Billeter. Was sagte er ins Mikrofon, als Federer damals den dritten Matchball verwertete? Billeter lächelt: «Ich glaube, es war ein ‹Jawohl› – ich wusste, es war ein besonderer Moment.»
Wir klingeln bei seinem Kommentatoren-Kollegen Heinz Günthardt (64) und erreichen ihn zu Hause in Südfrankreich. Auch er fühlt sich ins Jahr 2003 zurückversetzt: «Zunächst hat es auf mich unwirklich gewirkt, dass nun tatsächlich ein Schweizer in Wimbledon gewonnen hat. Aber Federer hat es geschafft. Er hat durchgezogen. Es gibt Spieler, die können nicht mit der Favoritenrolle umgehen. Bei ihm ist das anders. Er hat mir einst erzählt: ‹Wenn ich der Favorit bin, dann bin ich auch der Beste. Und das hilft mir.› Deshalb triumphierte er an diesem Tag.»
Auf der Tribüne fallen sich Federers Freundin Mirka Vavrinec und Coach Lundgren in die Arme. Eine riesige Last fällt von beiden ab. Sie wissen: Federers Weg in den Final war nicht einfach. Er ist geprägt vom Drama um seinen Hexenschuss, den er sich beim Aufwärmen für den Achtelfinal gegen Feliciano Lopez zugezogen hat. Federer kämpft sich irgendwie in den Viertelfinal, profitiert in der Folge von einer Spielverschiebung wegen Dauerregens. Dann schlägt er den ebenfalls angeschlagenen Holländer Sjeng Schalken und ist rechtzeitig für den Halbfinal gegen Andy Roddick wieder fit. Federer gibt später zu, riesige Schmerzen gehabt zu haben: «Ich dachte: Ich werde hier nie gewinnen.» Lundgren bezeichnet den medizinischen Zwischenfall als «gravierend», ist dann aber auch verblüfft, wie gut ihn Federer letztlich weggesteckt hat.
Der Schwede erzählt am Handy weiter: «Roger hat unglaublich gespielt. Eigentlich war der Halbfinal gegen Roddick schon das vorgezogene Endspiel – im Final gegen Philippoussis hat er es dann fantastisch zu Ende gebracht. Und danach ging es direkt weiter. Erst die Medientermine. Dann das Champions Dinner, wir mussten direkt in unsere Anzüge schlüpfen.»
Lundgren lacht erneut: «Es war nicht so, dass wir an jenem Abend auf den Tischen getanzt hätten. Es waren die verrücktesten zwei Wochen meines Lebens. Ich war tot, Pavel auch. Und Roger war ebenfalls hundemüde. Wir haben alles für diesen Erfolg getan.»
Wirklich alles, wie Lundgren mit einer Anspielung auf seinen Aberglauben erklärt: «Ich habe mir extra im Souvenir-Shop ein Sitzkissen gekauft. Denn ich fand, dass die Bänke in der Box, die es damals noch gab, viel zu hart waren. Als Roger dann zu siegen begann, habe ich das Kissen jedes Mal wieder mitgenommen. Es hat Glück gebracht. Heute ist es bei meinem Sohn zu Hause in Göteborg – aber ich habe vergessen, es von Roger unterschreiben zu lassen. Ich bin so blöd!»
Federer wird mit seinem Sieg auf einen Schlag weltberühmt. Am Morgen danach sagt er: «Ich bin kein einfacher Tennis-Star mehr. Mein Bekanntheitsgrad steigt jetzt in höhere Dimensionen. Schon jetzt reden die Leute anders mit mir.» Blick schreibt damals: «Vor dem Eingang des Hotels Savoy warten Scharen von Fans und Fotografen. Ein Blitzlicht-Gewitter, als Roger mit seiner Freundin Mirka aus der Limousine steigt – wie bei der Oscar-Verleihung in Hollywood.»
Kaffeepause mit Kollegin Cécile Klotzbach (54), für die es vor 20 Jahren die persönliche Wimbledon-Premiere für Blick war. Sie sagt: «Federer ist an diesem Tag ganz sicher zu spät zum Champions Dinner gekommen. Nicht, weil etwa der Match so lange dauerte – der war ja in drei Sätzen durch. Der Grund war vielmehr der ewige Medienmarathon danach. Es war eine seiner berühmten, langen Pressekonferenzen, die später bei ihm Standard wurden. Er nahm sich immer viel Zeit für die Journalisten. Wollte jemand abklemmen, ging er dazwischen. Das war grossartig. Und am nächsten Morgen ging es mit einer ganzen Reihe von Interviews in seiner angemieteten Wohnung weiter. Ich sehe es noch genau vor mir, wie damals die Titelseiten der Weltpresse ausgebreitet auf einem Tisch lagen, als wir zum Termin erschienen.»
Im Verlaufe seiner Karriere hat Federer ein ganzes Management-Team hinter sich gehabt. Zu Beginn aber kümmert sich noch Freundin Mirka um die Medienarbeit. Die damals 25-jährige Ex-Spielerin sagt zu Blick: «Es ist gewaltig. In bloss fünf Minuten sind wieder drei Anfragen reingeflattert. Ich weiss nicht, ob das bei allen Wimbledon-Siegern so ist. Eine richtige Roger-Mania.» Und: «Ich bin so stolz auf meinen Rogi.»
Auch in der Heimat sind alle aus dem Häuschen. Das ATP-Turnier in Gstaad schickt am Tag nach seinem Sieg einen Privatjet nach London, um ihn in die Berner Berge einzufliegen. Federer meint: «Jedes andere Turnier wäre mir jetzt egal. Aber in Gstaad gab man mir meine erste Wildcard (mit 16 Jahren, d. Red.) und war immer nett zu mir.» Im Berner Oberland angekommen, erwarten ihn Direktor Köbi Hermenjat und sein Vize Claudio Hermenjat. Und: ein 800 Kilo schweres Geschenk. Eine Kuh namens Juliette, die er später gar noch auf der Alp besuchen sollte (und die vier Jahre später wegen zu geringer Milchproduktion auf der Schlachtbank landet). Es ist eine kleine Randgeschichte seines ersten grossen Triumphes. Richtig viral gehen aber andere Bilder: Es sind Federers Freudentränen. Die Zeitungen sind voll davon.
Klotzbach denkt an ihr Interview mit Federer zurück, als dieser über seine Emotionen sprach. Er habe gehofft, die Tränen zurückhalten zu können, habe es aber nicht geschafft: «Er sagte, die Tränen seien auch für seinen ein Jahr zuvor verstorbenen Coach Peter Carter (†37) gewesen. Er hoffte, dass dieser von irgendwoher zugesehen hätte. Er widmete sie aber auch allen anderen, die ihn auf seinem Weg unterstützt hatten.»
Nachfrage bei TV-Kommentator Billeter. Wie war es, die emotionalen Szenen live im TV zu beschreiben? «Das kam für uns völlig überraschend. Diese Seite haben wir von ihm noch gar nicht gekannt. Diese Tränen, die später zu seinem Markenzeichen wurden, haben die Bedeutung des Erfolgs noch einmal verdoppelt. Das war schon sehr berührend, auch für mich persönlich.» Es waren, wie Blick damals titelte, Tränen für die Ewigkeit.