Frühling 2005. FCZ-Coach Lucien Favre sitzt an einem Montagmorgen in seinem Trainerbüro im Stadionbauch des Letzigrunds. Auf dem Tisch sind Schwarz-Weiss-Fotos seiner Servette-Zeit ausgebreitet. Wenige Wochen zuvor war sein Herzensklub, für den er als Spieler und Trainer elf Jahre gearbeitet hatte, Konkurs gegangen.
Der damals 47-jährige Favre schaut sich die einzelnen Bilder interessiert, aber scheinbar emotionslos an. Bis er ein bestimmtes Foto entdeckt. Auf einen Schlag verfinstert sich seine Miene. Die Atmosphäre, die bis zu diesem Zeitpunkt gelöst und locker war, ist auf einmal eine andere. Es wird frostig, und Favre, der gegenüber Journalisten eh schon nicht durch eine ausgeprägte Redseligkeit auffällt, wird noch schweigsamer. Er gibt seinem Gegenüber ganz klar zu verstehen: So nicht!
Mehr Fussball
Auf dem Bild zu sehen sind er und Gabet Chapuisat. Ein Bild, das Favre bis heute in Rage versetzt.
Favres linkes Knie? Ein Totalschaden!
Rückblende. Freitag, 13. September 1985. In der achten Runde der Nationalliga A trifft Leader Servette in der heimischen Charmilles vor 4800 Zuschauern auf den Tabellenvorletzten Vevey. Kurz vor der Pause führen die Grenats durch einen verwandelten Foulelfmeter 2:1, verursacht durch Pierre-Albert, besser bekannt als Gabet Chapuisat. In der 42. Minute kommt Lucien Favre an den Ball. Der Servette-Regisseur tänzelt Richtung Strafraum, umdribbelt leicht und locker zwei Vevey-Spieler. Was dann passiert, wird als schlimmstes Foul aller Zeiten in die Geschichtsbücher des Schweizer Fussballs eingehen.
Wie von Sinnen springt Chapuisat, bekannt für seine rustikale Spielweise und seine kurze Zündschnur, mit gestrecktem Bein und den Stollen voraus in Richtung Favre. Den Ball verpasst er deutlich, nicht aber Favres linkes Knie. Selbst der Kommentator des Schweizer Fernsehens findet in seiner Match-Zusammenfassung ungewohnt klare Worte: «Ein Foul, das nicht einmal mehr mit dem Namen Chapuisat zu entschuldigen ist. Selbst in der Hitze des Gefechts ist dies eine Attacke, die an vorsätzliche Körperverletzung grenzt.»
Doch Chapuisat kommt auf dem Platz ungestraft davon. Weil Schiedsrichter Bruno Galler die Aktion nicht gesehen hat, lässt er das Spiel weiterlaufen. Was denkt der Aargauer heute über die Szene? Anruf bei Galler. «Lassen Sie mich raten: Sie möchten mit mir über Chapuisat reden, oder?», fragt er sogleich und erklärt dann, was sich aus seiner Sicht vor 38 Jahren zugetragen hat. «Mir war damals das Blickfeld zugestellt. Ich sah nur noch, wie Favre am Boden lag und Chapuisat so tat, als hätte er nichts getan. Danach wurde Favre – gestützt von zwei Helfern – vom Platz gebracht, und das Spiel ging normal weiter. Auch nach dem Schlusspfiff war das Foul kaum ein Thema.»
Erst, als am Samstagabend die Zusammenfassung im «Sportpanorama» läuft, steigt die Empörung, und die Entrüstung nimmt Fahrt auf. Mittendrin Schiedsrichter Bruno Galler. «Auf einmal zeigten alle auf mich. Plötzlich war ich der Böse und gar nicht Chapuisat, weil ich das Foulspiel nicht geahndet hatte. Man gab mir das Gefühl, ich hätte Favres Knie kaputt getreten.»
Favres linkes Knie – es ist nach diesem Brutalo-Foul ein Totalschaden. In der Genfer Clinique Générale diagnostizieren die Ärzte Innen-, Seiten- und Kreuzbandriss. Zweieinhalbstündige Operation, achtmonatige Pause! Professor Widmer, der ihn operiert hat, sagt: «Eine solch schlimme Knieschädigung habe ich noch nie gesehen. Sogar die Kniescheibe trug noch Spuren der Aggression.»
Doch auch für Chapuisat hat seine Aktion Folgen. Während er vom Verband nachträglich nicht gesperrt werden kann, wird er von Vevey wenige Tage danach fristlos entlassen. «Es war das brutalste Foul, das ich je gesehen habe. Und wenn schon alle nach Fairplay schreien, soll man auch danach handeln», begründet Präsident Paul Rinsoz den Rauswurf Chapuisats.
Chapuisat selbst kann den ganzen Wirbel in den Tagen nach der Aktion nicht verstehen. «Ich weiss gar nicht, warum es ein solches Theater gibt. Solche Fouls gibt es in jedem Spiel», rechtfertigt er sich. Und weiter: «Ich kann doch nichts dafür, dass Favre ein Fussball-Millionär ist. Bei einem anderen Spieler hätte man wohl nichts gesagt. Ich bin mir keiner Schuld bewusst.»
«Favre ist für mich gestorben»
Normalerweise wäre an der Stelle diese Geschichte nun zu Ende. Nicht aber in diesem Fall 1985, denn was danach folgt, ist zu diesem Zeitpunkt einzigartig im Schweizer Fussball. Favre reicht eine Klage vor Gericht ein, wegen schwerer und vorsätzlicher Körperverletzung. «Favre will Chapuisat in den Knast bringen», titelt Blick damals.
Und so kommt es knapp zwei Jahre später zur Fortsetzung dieser Geschichte. Als Zeugen vor Gericht geladen sind Bruno Galler, seine damaligen Linienrichter, Favres Arzt, ein TV-Kameramann und sogar vier Zuschauer, die das Foul damals gesehen haben.
Im Gerichtssaal sagt Favre: «Er hat mich vorsätzlich niedergemetzelt.» Chapuisat kontert: «Ich sah Favre in jener Szene nicht. Ref Galler, einer der besten des Landes, sah nicht einmal das Foul. Es war ein normaler Angriff mit dem rechten Fuss, glitschiger Boden.» Favres Anwalt ergreift das Wort und zitiert aus einem Meteo-Bericht vom Flughafen Genf: «Am 13. September 1985 waren die Pisten trocken.» Zeuge Galler erklärt daraufhin: «Abends war das Terrain nass und glitschig.» Das Gericht tagt über sechs Stunden. Am Ende beantragt der Staatsanwalt zwei Monate Gefängnis bedingt.
Der Tag danach. Um 14.10 Uhr wird das Urteil verkündet. Das Gericht kann Chapuisat keine böse Absicht nachweisen. Es verurteilt ihn wegen «durch Fahrlässigkeit verursachte einfache Körperverletzung». Deshalb muss Chapuisat nur 5000 Franken Busse zahlen und die Gerichtskosten übernehmen.
Die Reaktionen auf das Urteil fallen unterschiedlich aus. Favre: «Chapuisat hat einen verdienten Denkzettel bekommen.» Chapuisat: «Favre ist für mich gestorben.»
Chapuisat gibt Fehler zu
Heute wirkt der 75-jährige Chapuisat fast schon ein bisschen altersmilde, wenn er auf sein Foul von 1985 angesprochen wird. «Mon dieu, seit 38 Jahren rufen mich immer wieder Journalisten an und möchten mit mir darüber reden. Hört das denn nie auf?», erklärt er per Telefon, «sollten mir Ihre Fragen nicht passen, gebe ich Ihnen keine Antwort.»
Dann redet er doch. «Es war ein Unglück, ich wollte ihn nicht verletzen, es war keine Absicht. Zu meiner Verteidigung möchte ich sagen, dass damals auf dem Platz alles sehr schnell ging. Aber ja, ich habe einen Fehler gemacht.»