In einem dunkelgrünen Ringbuchordner hat Walter Nussbaumer alles fein säuberlich abgeheftet. «Die Nacht, in der St. Gallen durchdrehte», «Fussball-Fans liefen Amok» oder «Die Angst der Schiedsrichter auf dem Espenmoos» steht in den Schlagzeilen der Zeitungsartikel. Der heute 76-Jährige schaut sich auf der Terrasse seiner Wohnung im thurgauischen Amriswil alles nochmals genau an und sagt: «Das war schon eine unglaubliche Geschichte.»
Dienstag, 2. April 1985. Im Espenmoos trifft der FC St. Gallen auf Xamax. Beide Teams schielen noch auf einen Europacup-Platz. Eigentlich hätte an diesem föhnigen Abend der Schiedsrichter Charles-Henri Morex heissen sollen, doch aus irgendeinem Grund musste Walter Nussbaumer einspringen. «Meine Frau sagte mir noch, dass ich meist nur am Wochenende gut pfeife und unter der Woche oft ein bisschen der Wurm drin sei», erinnert sich Nussbaumer.
Den gebürtigen Innerschweizer zieht es Mitte der 60er-Jahre nach Nordamerika. Dort arbeitet er nebenbei als Schieds- und Linienrichter. «Das war eine gute Einnahmequelle und eine Möglichkeit, mein Englisch zu verbessern», sagt der heute 76-Jährige.
Als er in die Schweiz zurückkehrt, setzt er seine Schiedsrichter-Karriere fort, arbeitet unter anderem als Linienrichter an der Seite des bekannten André Daina. Für einen NLA-Einsatz erhält Nussbaumer damals zwischen 100 und 150 Franken.
Das Skandalspiel von St. Gallen ist eine Zäsur in seiner Schiri-Laufbahn. Danach erhält er durchschnittlich nur noch ein Spiel pro Monat zugeteilt. «Das war schon ein bisschen frustrierend», sagt er heute.
Den gebürtigen Innerschweizer zieht es Mitte der 60er-Jahre nach Nordamerika. Dort arbeitet er nebenbei als Schieds- und Linienrichter. «Das war eine gute Einnahmequelle und eine Möglichkeit, mein Englisch zu verbessern», sagt der heute 76-Jährige.
Als er in die Schweiz zurückkehrt, setzt er seine Schiedsrichter-Karriere fort, arbeitet unter anderem als Linienrichter an der Seite des bekannten André Daina. Für einen NLA-Einsatz erhält Nussbaumer damals zwischen 100 und 150 Franken.
Das Skandalspiel von St. Gallen ist eine Zäsur in seiner Schiri-Laufbahn. Danach erhält er durchschnittlich nur noch ein Spiel pro Monat zugeteilt. «Das war schon ein bisschen frustrierend», sagt er heute.
Normalerweise reist Bankkaufmann Nussbaumer, der zu dieser Zeit in Crans VD wohnt, mit dem Zug an die Spiele, doch an diesem Tag fährt er mit seinen beiden Linienrichtern und einem Kollegen mit dessen Ferrari nach St. Gallen.
Nach einer Roten Karte drehen die Zuschauer durch
Das Spiel beginnt und plätschert so vor sich hin. Doch in der 26. Minute nimmt das Unheil seinen Lauf. Im Neuenburger Strafraum geraten Xamax-Spieler Silvano Bianchi und St. Gallens Martin Gisinger aneinander. Nussbaumer entscheidet: kein Foul! Die St. Galler Fans, sie schäumen. «Natürlich hätten sich die Heim-Fans einen Penalty gewünscht, aber es war definitiv keiner», so Nussbaumer noch heute.
In der 68. Minute ist es dann endgültig vorbei mit der Ruhe. Foul von St. Gallens Libero Ladislav Jurkemik, Freistoss für Xamax, etwa 35 Meter vom Tor weg. Nussbaumer: «Ich stellte die Mauer auf. Alles war bereit, da kam Jurkemik plötzlich vier, fünf Meter nach vorne. Ich sagte ihm, er solle das sein lassen. Doch was machte er? Noch einmal genau das Gleiche. Deshalb zeigte ich ihm Gelb. Damit war es aber immer noch nicht vorbei. Als er ein drittes Mal nach vorne kam, zeigte ich ihm Rot und verwies ihn folgerichtig des Platzes.» Jurkemik sieht das natürlich naturgemäss komplett anders. «Ich glaubte zu träumen, als ich die Rote Karte sah», sagt er nach dem Spiel.
Krimis im Schweizer Fussball
Ab diesem Moment ist so richtig Feuer drin. Die Stimmung, sie wird immer hitziger, und Nussbaumer hat grosse Mühe, das Spiel fertig zu pfeifen. St. Gallen verliert schliesslich 1:2, und das Schiedsrichter-Trio verschwindet unter fünfköpfigem Polizeischutz und FCSG-Präsident Paul Schärli in der Garderobe.
Während Nussbaumer und Co. in der Kabine sitzen, ist draussen die Hölle los. Einzelne Zuschauer skandieren: «Hängt sie auf, die schwarze Sau.» Es fliegen Flaschen, und die Fans verbarrikadieren die Ausgänge. Tränengasschwaden hängen über dem Stadion. Irgendwann taucht Schärli bei Nussbaumer auf und sagt: «Sie können hier nicht raus. Die Zuschauer schlagen die Scheiben ein und warten auf Sie.» Etwa 45 Minuten später kommt Schärli erneut und verkündet: «Sie werden ausgeflogen, der Helikopter kommt gleich.»
Gegenüber der «Schweizer Illustrierten» erklärt Schärli damals seinen Entscheid: «Helikopter oder noch mehr Polizei? Ich entschied mich für den Helikopter, weil ein grösseres Polizeiaufgebot nur noch grössere Keilereien heraufbeschworen hätte.» Kosten für den Flug: 3000 Franken, bezahlt vom Heimteam.
«Selten einen so schönen, grossen Landeplatz gehabt»
Szenenwechsel. Thomas Meier ist damals 27 Jahre alt und Rega-Pilot. Er heisst eigentlich anders, möchte aber nicht namentlich genannt werden. «Ich hatte damals Nacht-Pikett, als mich der Einsatzleiter anrief und fragte, ob ich im Espenmoos landen könnte», erinnert er sich, «zuerst dachte ich, er mache einen Witz. Es war aber keiner. Dann erhielt ich die Anweisungen. Ich solle im Stadion landen, den Motor erst gar nicht abstellen, die Schiedsrichter einsteigen lassen und dann gleich wieder abfliegen.»
Meier schwärmt noch heute von dieser Aktion. «Ich habe selten einen so schönen, grossen und gut beleuchteten Landeplatz gehabt. Ich landete punktgenau im Anspielkreis.»
Während draussen der Mob weiter wütet, steigen Nussbaumer und seine Linienrichter unbeachtet in den Helikopter und heben ab. Dieser bringt sie zum wenige Kilometer entfernten Rastplatz Wildhus. Dort steht schon der Kollege mit seinem Ferrari bereit, und unter Polizeischutz fahren sie los in Richtung Westschweiz.
Gute Noten für den Schiedsrichter
Walter Nussbaumer schüttelt beim Erzählen immer wieder ungläubig den Kopf. Es ist bis heute eine einmalige Geschichte im Schweizer Fussball. «Ich glaube, ich habe keine gravierenden Fehler gemacht, und kann bis heute nicht genau verstehen, wie es so weit kommen konnte.»
Dass der Schiedsrichter nicht schuld war, belegt auch der Rapport. Auch der ist im Ringbuchordner fein säuberlich abgelegt. «Hatte auch den Mut, unpopuläre Entscheide gegen den Platzklub zu pfeifen», steht dort. Oder: «Ihm ist zu verdanken, dass diese nervöse und von beiden Seiten verbissen geführte Partie einigermassen sportlich beendet werden konnte.»
Zu guter Letzt entdeckt Nussbaumer in seinem Privatarchiv noch ein Kiosk-Plakat aus der Westschweiz. «Exklusive Geschichte: Schiedsrichter per Helikopter gerettet», steht dort in grossen Buchstaben. Noch einmal schüttelt er den Kopf.