Eigentlich passt dieser Jubel gar nicht zu Dan Ndoye (23). Nach seinem Treffer im EM-Gruppenspiel gegen Deutschland (1:1), seinem ersten überhaupt für die A-Nati, fährt der Flügelspieler die Krallen aus und brüllt in Richtung Kamera. «Im Senegal werden die Leute oft als Löwen beschrieben», klärt der Sohn einer Schweizerin und eines Senegalesen nach der Partie auf.
Ndoye, der Löwe? «Als Jugendlicher war Dan eigentlich immer eher zurückhaltend und schüchtern», sagt sein einstiger Jugendtrainer Sébastien Bichard. «Für Dan gab es immer nur Fussball, Fussball und noch einmal Fussball», erinnert sich der heutige Clermont-Coach, der Ndoye jahrelang im Nachwuchsbereich von Lausanne-Sport betreut hat. «Auf dem Platz hat er seine kindliche Seite bis heute nicht verloren. Für ihn ist Fussball in erster Linie ein Vergnügen», findet Bichard.
«Nizza-Wechsel kam zu früh»
Kein Wunder nennt Ndoye mit Neymar einen Brasilianer als sein grosses Vorbild. Charaktertechnisch scheint der Nati-Flügel seinem Idol aber nicht nachzueifern. «Dan ist immer noch der gleiche Junge von damals», so Bichard. Dazu passt auch, dass ehemalige Mitspieler aus dem Lausanner-Nachwuchs wie Andi Zeqiri oder Bryan Okoh noch heute zu seinen engsten Freunden zählen.
Dass sein ehemaliger Schützling nun an der EM derart durchstartet, überrascht Bichard nicht. Wenn Ndoye Vertrauen zu spüren bekomme, dann zahle er das immer zurück. Der Erste, der Ndoye im Profi-Fussball das Vertrauen schenkt, ist Giorgio Contini (50). Unter dem heutigen Nati-Assistenten kommt der Offensivspieler im Frühling 2019 zu seinen ersten Challenge-League-Einsätzen für Lausanne-Sport. Und das pfeilschnelle Nachwuchstalent weiss derart zu überzeugen, dass nach seiner ersten kompletten Saison bereits zu Partner-Klub Nizza weiterzieht.
«Ich glaube, dieser Schritt kam rückblickend zu früh», sagt Bichard. Zwar kommt Ndoye in Südfrankreich regelmässig zum Einsatz, allerdings fast nie von Beginn an. Nach der Entlassung von Patrick Vieira verringert sich seine Spielzeit unter Nachfolger Adrian Ursea noch weiter. So kommen nach der ersten Saison zwar 37 Spiele, aber nur gut 1000 Einsatzminuten zusammen.
Starke Europa-Auftritte mit dem FCB
Zu wenig für Ndoye, der sich zu einem ungewöhnlichen Schritt entscheidet. Mit 20 Jahren wechselt er zurück in die Schweiz. «Für ihn war es extrem wichtig, dass er immer von Anfang an spielt», sagt Bichard. Der Wechsel in die Super League sei darum genau der richtige Schritt gewesen. Beim FCB ist Ndoye zwar auf Anhieb Stammspieler, so richtig durchstarten kann er aber auch dort nicht. Viel Tempo, eine beeindruckende Physis, aber auch immer wieder Probleme bei der Entscheidungsfindung. Ndoye ist mehr Mitläufer als Leistungsträger.
Doch das ändert sich in seiner zweiten FCB-Saison. Gerade auf europäischer Ebene legt Ndoye immer wieder bärenstarke Auftritte hin und ist massgeblich daran beteiligt, dass die Basler im Conference-League-Viertelfinal seinen Ex-Klub Nizza aus dem Wettbewerb kegeln. Plötzlich weiss Ndoye sein Potenzial auszuschöpfen.
Sogar die italienische Presse schwärmt
So klopfen im letzten Sommer zahlreiche Klubs aus grossen Ligen an. Ndoye entscheidet sich für einen Wechsel nach Bologna, weil er vom ersten Kontakt an viel Vertrauen zu spüren bekommt. Zwei Monate lang bemüht sich der Klub aus der Emilia-Romagna um ihn. Und im zweiten Anlauf klappt es mit dem Ausland-Abenteuer. Bei Bologna ist der Schweizer von Beginn an Stammspieler, auch eine zwischenzeitliche Muskelverletzung kann seinen Aufstieg nicht stoppen.
32 Serie-A-Einsätze stehen nach seiner überragenden Debüt-Saison zu Buche, die Bologna mit der sensationellen Quali für die Champions League krönt. Seinen bislang grössten Moment in Italien erlebt Ndoye aber im Cup, wo er im Achtelfinal in der Verlängerung zum 2:1-Sieg gegen Inter Mailand trifft. «Ein Tornado, ein Teufel, eine Klinge», schreibt die «Gazzetta dello Sport» ein paar Tage später.
Inter ist heiss auf Ndoye
Ausgerechnet Inter soll nun grosses Interesse an einer Verpflichtung von Ndoye haben. Doch kommt der Wechsel zum italienischen Meister nicht etwas zu früh? «Wenn er das Vertrauen des Trainers spürt, kann er sich auch bei Inter durchsetzen», ist auch Bichard überzeugt. Zu einem Wechsel dürfte es aber frühstens nach der EM kommen. Denn trotz seines ersten Nati-Treffers ist Ndoye selbst mit seinen bisherigen Auftritten nicht restlos zufrieden. «Er ist sehr selbstkritisch und will sich immer weiter verbessern», sagt Bichard.
Dazu passen Ndoyes Aussagen nach dem Deutschland-Spiel: «Ich möchte in erster Linie meine Leistung bringen und für die Mannschaft entscheidend sein, auch wenn ich keine Tore schiesse», erklärte Ndoye. Gegen einen erneuten Löwen-Jubel gegen Italien hätte aber niemand etwas einzuwenden. Auch wenn dieser Jubel eigentlich gar nicht zum zurückhaltenden Waadtländer passt.