Welche EM- oder WM-Endrunde ist die Erste, an die Sie sich komplett erinnern? In meinem Fall war es die EM 2004. Da war ich zehn Jahre alt. Dieses Alter nehmen wir als Gradmesser für die folgende These: Für alle, die 1998 oder später geboren sind und nicht viel von Erzählungen aus vergangenen Zeiten halten, ist Italien keine grosse Fussballnation.
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So hart es klingen mag, aus der Luft ist das nicht gegriffen. Italiens Abschneiden seit dem letzten WM-Titel vor achtzehn Jahren an der WM 2006 spricht eine klare Sprache. Sieben der letzten neun Turniere endeten mit Enttäuschungen. Den EM-Titel vor drei Jahren könnte man daher gut als Zufallsprodukt taxieren. Oder was geht Ihnen bei der folgenden Bilanz durch den Kopf?
Sicher ist: Vor einer Nation mit einer solchen Bilanz muss die Nati keine Angst haben. Ein Underdog, wie sie es im letzten Jahrtausend in diesen Duellen war, ist sie längst nicht mehr. Das ist allerdings nicht nur der Verdienst der Schweiz, sondern hat Italien zu einem grossen Anteil selber zu verantworten.
Trainer-Legende Arrigo Sacchi (78) sagte einmal: «Wir waren ein Luxus-Restaurant, jetzt sind wir eine Pizzeria.» Nach guter italienischer Tradition gibt es aber nicht nur einen Grund für die Krise. Vielmehr ist es eine Reihe an Fehlern und Ereignissen, die perfekt zum zweiten Nationalsport Italiens passen: die Verantwortung abschieben.
Italien weiss, wie man zusammenhält
So richtig seinen Lauf nimmt das Übel kurz vor der WM 2006. Der Wettskandal «Calciopoli» erschüttert Italien. Mehrere Top-Klubs sowie Manager wie Luciano Moggi sind involviert. Das Land ist wütend und enttäuscht. Das Vertrauen in die Squadra Azzurra? Gleich null.
Doch wie so oft in Krisensituationen, verstehen es die Italiener, eine Einheit zu bilden. Wie es in ihrer Hymne verlangt wird: «Lasst uns die Reihen schliessen. Wir sind bereit zum Tod. Italien hat gerufen! Ja!» Aber auch weil das Kader über reichlich Talent verfügt, reichts völlig unverhofft zum ganz grossen Wurf.
Buffon; Zambrotta, Cannavaro, Materazzi, Grosso; Camoranesi, Pirlo, Gattuso, Perrotta; Totti, Toni. So lautet die italienische Aufstellung beim gewonnenen WM-Final 2006. Na, hinterlassen die Namen Wehmut? «Siamo sul tetto del mondo» («Wir sind auf dem Dach der Welt»), titeln die Gazetten am 10. Juli 2006. Ein Gemütszustand, der aber nicht lange anhält.
Ohne Investitionen, kein Erfolg
Der Wettskandal holt ganz Italien schnell auf den Boden der Realität zurück. Juventus muss in die Serie B. Milan, Inter, Fiorentina und Lazio starten mit Minuspunkten in die Serie A. Die Klubs sind alle mit sich selber beschäftigt. Jeder denkt ans kurzfristige Überleben. Derweil gleicht der Verband einem Trümmerhaufen.
Die Folgen sind verheerend. Die Serie A verliert massiv an Werbeeinnahmen. Es springen reihenweise Investoren ab. Die Zuschauer bleiben den maroden Stadien fern. Die Schulden häufen sich. Und wenn jemand mal was Neues zu wagen versucht, schiebt die Politik mit ihrer Bürokratie einen Riegel vor. Deshalb bleiben Investitionen in Infrastruktur, Vermarktung und Nachwuchs aus. Reformiert wird lange nichts. Dafür umso mehr und umso lieber lamentiert.
Der fehlende Nachwuchs
Die Serie-A-Klubs generieren noch heute – anders als in anderen Ligen – nur einen Bruchteil ihrer gesamten Einnahmen mit dem Ticketing. Der Grund: Nur deren drei verfügen über eine eigene Arena: Juventus, Atalanta und Udinese.
Unter der miesen Wirtschaftlichkeit der Klubs sowie der schwachen Nachwuchsarbeit hat in den letzten Jahren zunehmend die Nationalmannschaft gelitten. Seit Jahren fehlt es an grossen Namen. Doch nicht nur, weil keine guten Fussballer geboren sind. Nein, weil die Jungen kaum gefördert werden, ihnen meist Routiniers vor die Nase gesetzt werden und sie zu wenig unterstützt werden. So ist es Sandro Tonali (24) und Nicolò Fagioli (23) ergangen, die sich mit illegalen Wetten abgelenkt haben und dafür mit monatelangen Sperren gebüsst wurden.
Amerikaner sorgen für Aufschwung
Nur langsam findet in puncto Nachwuchsarbeit ein Umdenken statt. Auch die Infrastruktur bessert sich allmählich. Vor allem dank investitionsfreudigen Amerikanern – sieben Klubs sind schon in deren Händen.
Davon kann langfristig auch die Squadra Azzurra profitieren. Bis sie aber wieder regelmässig da ist, wo sie einmal war, ist es noch ein weiter Weg. Das kommt der Nati gerade recht. So gute Erfolgsaussichten hatte sie gegen das südliche Nachbarland noch nie.
Aber trotzdem aufgepasst: Wenn jemand weiss, wie man aus Krisen stärker hervorkommt, dann ist es Italien. Abschreiben darf man sie nie. Auch nicht in einer einzelnen Partie, wenn alles nach Sieg aussieht. Man frage die Kroaten.