Blick: Herr Tardelli, Italien ist zwar Titelverteidiger, gehört aber nicht zu den grössten Favoriten auf den EM-Titel. Was liegt für die «Squadra Azzurra» drin?
Marco Tardelli: Eine gute Frage. Wir haben eine gute Mannschaft, in der eine positive Stimmung herrscht, aber der Weltklassespieler fehlt. Dafür haben wir mit Luciano Spalletti einen grossartigen Trainer. Er weiss, wie man eine Einheit formt, und hat es in allen Teams immer geschafft, dass ihm jeder folgt und an ihn glaubt. Wozu das reicht, weiss ich nicht. Aber wenn wir die Gruppe überstehen, dann mal sehen.
Ein leichtes Unterfangen wird das nicht. Auf Italien wartet mit Spanien, Kroatien und Albanien eine Hammergruppe.
Halt. Es ist nicht nur für Italien eine Hammergruppe. Für Spanien und Kroatien wird es genauso schwierig. An solchen Turnieren ist man nur erfolgreich, wenn man das Momentum auf seiner Seite hat. Das müssen wir nun auf unsere Seite holen, indem wir den Ärger über das Verletzungspech (Giorgio Scalvini und Francesco Acerbi fallen für die ganze EM verletzt aus, Nicolò Barella ist fraglich fürs erste Spiel – Anm. d. Red.) in positive Energie umwandeln.
2021 rechnete kaum jemand damit, dass Italien Europameister wird. Ähnlich wie jetzt. Haben Sie das Gefühl, dass Italien sich erneut unter dem Radar bewegen und davon profitieren kann?
Nein, niemand unterschätzt Italien. Auch wenn wir schwierige Zeiten hinter uns haben.
Damit sprechen Sie das Verpassen der WM-Endrunden 2018 sowie 2022 an. Was ist in den vergangenen Jahren falsch gelaufen?
Es gibt nicht etwas Spezifisches, das nicht funktioniert hat. Es fehlen uns ganz einfach Ausnahmekönner, wie es Francesco Totti, Alessandro Del Piero, Roberto Baggio und Giancarlo Antognoni waren. Solche Spieler werden nicht jedes Jahr geboren. Langsam gehts aber wieder nach oben. Ich sehe viele junge Spieler mit Qualität.
Ist Spalletti der Richtige, um Italien wieder gross zu machen?
Davon bin ich überzeugt. Er hat das EM-Kader auch mit Blick auf die WM 2026 zusammengestellt. Wir haben das sechstjüngste Team. Diese Euro soll daher auch als Vorbereitung auf die nächste Weltmeisterschaft dienen.
Spalletti ist unter anderem für seine strikten Regeln bekannt. Auch an der EM greift er wieder durch: Handyverbot am Tisch, keine Kopfhörer, keine Spielkonsolen in den Zimmern, sondern nur in Gemeinschaftsräumen. Was halten Sie davon?
Ich unterstütze das. Die Welt dreht sich zwar weiter und die Zeiten verändern sich. Aber es gibt Grundsätze, die sehr wichtig sind. Das Miteinander und der persönliche Austausch sind in einem Teamsport wie dem Fussball elementar. Man muss sich untereinander kennen, um das Beste abzurufen. Deshalb gefällt es mir nicht, wenn man nur in seinem eigenen Zimmer am Smartphone hockt oder sich mit Kopfhörern vom Rest abschottet.
Welcher Italiener kann die Überraschung sein?
Ich setze auf Gianluca Scamacca. Er hat noch nicht das Beste aus sich herausgeholt. Und einen «Goleador» braucht es immer.
Sie waren selber zwar kein Torjäger, haben aber im WM-Final 1982 gegen Deutschland das vorentscheidende 2:0 erzielt und danach zum wohl schönsten und ikonischsten Jubel der Geschichte angesetzt. Wie oft werden Sie noch darauf angesprochen?
Ziemlich oft. Es sind grossartige und wunderbare Erinnerungen. Diesen Titel zu holen, bedeutete mir unglaublich viel. Dieses Trikot war wie meine zweite Haut.
Zu Ihrer erfolgreichen Spielerkarriere gehört auch ein kurzes Kapitel beim FC St. Gallen.
Ich hatte sehr sympathische Teamkollegen und viel Spass. Man lebt den Fussball in der Schweiz zwar weniger intensiv als in Italien. Aber es war eine tolle Zeit.
Wie schätzen Sie die Chancen der Schweiz an der EM ein?
Ihr habt eine gute Mannschaft, die jeden Gegner vor Probleme stellen kann. Für mich habt ihr Aussenseiter-Chancen auf den Titel.
Und wer hat die besten Karten?
Frankreich, Portugal und Deutschland. Aber natürlich hoffe ich auf Italien.