«Das Coming-out war mir sehr wichtig»
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Ariella Kaeslin mit Partnerin:«Das Coming-out war mir sehr wichtig»

Kunstturn-Legende Ariella Kaeslin
«Ich war dem Missbrauch machtlos ausgeliefert»

Sie war ganz oben. Doch den Preis, den die Kunstturnerin Ariella Kaeslin dafür bezahlte, war hoch. Zu hoch? Ein Gespräch über psychischen Missbrauch und Depressionen. Und darüber, weshalb es das doch alles wert war.
Publiziert: 18.06.2023 um 00:41 Uhr
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Aktualisiert: 18.06.2023 um 09:56 Uhr
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Kann wieder lachen: Heute schaut Ariella Kaeslin versöhnlich auf ihre Karriere zurück.
Foto: BENJAMIN SOLAND
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Daniel LeuStv. Sportchef

Frau Kaeslin, sind Sie diese Woche am Montagmorgen auf die Waage gestanden?
Ariella Kaeslin: Nein, diese Zeiten sind zum Glück vorbei. In meiner Wohnung gibts keine Waage.

Als Kunstturnerin mussten Sie sich in Magglingen jeden Montagmorgen auf die Waage stellen. Was passierte, wenn Sie aus Sicht Ihres Trainers zu schwer waren?
Dann wurde ich beleidigt und musste mit einer Schwitzjacke joggen, bis ich die 100 Gramm zu viel wieder runter hatte. Gelang mir das nicht, bekam ich ein eintägiges Trainingsverbot aufgebrummt. Wir versuchten deshalb natürlich immer zu verhindern, dass wir am Montagmorgen zu schwer waren.

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«Das Spielerische war von heute auf morgen weg»
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Wie machten Sie das?
Indem wir ab Sonntagabend nichts mehr assen. Und wir waren auch durchaus erfinderisch und clever. Wir wogen ab, welches Turndress am leichtesten war, zogen den BH aus und nahmen die Ohrringe ab, um jedes einzelne Gramm einzusparen.

Sie kamen als 13-Jährige ins Nationale Verbandszentrum nach Magglingen. Wie sehr hatten Sie Heimweh?
Mega, es war ein einschneidendes Lebensereignis. Von einem auf den anderen Tag waren mein Mami und mein Papi nicht mehr da, in der Schule hatte ich auf einmal andere Kolleginnen und Kollegen, und dann war da noch dieses äusserst harte tägliche Training.

Sie hatten bereits als Vierjährige mit dem Kunstturnen angefangen. War das Training in Magglingen danach so anders?
Das Spielerische war von heute auf morgen weg, es ging nur noch um Leistung.

Ariella Kaeslin

Die 35-Jährige ist die erste Schweizerin, die an einem Kunstturn-Grossanlass Medaillen gewinnen konnte. Im Sprung wurde die Luzernerin 2009 Europameisterin und Vize-Weltmeisterin. Sie wurde gleich dreimal zur Schweizer Sportlerin des Jahres gewählt. Nach ihrem Rücktritt 2011 schloss sie ein Studium der Psychologie und Sportwissenschaft und ein Studium in Physiotherapie ab. Sie lebt zusammen mit ihrer Hündin Clowie in Zürich.

Die 35-Jährige ist die erste Schweizerin, die an einem Kunstturn-Grossanlass Medaillen gewinnen konnte. Im Sprung wurde die Luzernerin 2009 Europameisterin und Vize-Weltmeisterin. Sie wurde gleich dreimal zur Schweizer Sportlerin des Jahres gewählt. Nach ihrem Rücktritt 2011 schloss sie ein Studium der Psychologie und Sportwissenschaft und ein Studium in Physiotherapie ab. Sie lebt zusammen mit ihrer Hündin Clowie in Zürich.

In den ersten sechs Magglingen-Jahren hatten Sie einen Trainer, der Sie und Ihre Kunstturn-Kolleginnen quälte, verbal beleidigte und psychisch missbrauchte. Wie sah ein typischer Tag in Magglingen aus?
Morgens hatte ich zwei bis drei Lektionen am Gymi in Biel. Dann fuhr ich mit dem Bähnli hoch nach Magglingen und trainierte drei Stunden. Nach dem Essen ging es wieder runter nach Biel in die Schule, danach wieder hoch, um nochmals zwei bis drei Stunden zu trainieren. Während der Trainings wurden wir regelmässig beleidigt, mit Wörtern, die ich hier nicht wiederholen möchte. Gegen 20 Uhr kam ich nach Hause, zuerst lebte ich in einer Gastfamilie, später in einer WG. Der schönste Moment des Tages war jeweils der Abend, wenn ich das Training überstanden hatte und unter der Dusche stand.

Ein grosses Thema damals war auch das Essen.
Unser Trainer verbot uns zum Beispiel, Brot und Spaghetti zu essen und ass genau das dann demonstrativ vor unseren Augen.

Hielten Sie sich immer daran?
Natürlich nicht. In der Mensa gingen wir regelmässig zur Geschirr-Rückgabe, nahmen dort die Pizzaränder, die nicht gegessen wurden, von den Tellern, stopften sie in unsere Taschen und assen sie später heimlich.

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«Auch ich wollte mich bis zum Maximum plagen»
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Welche Auswirkungen hatten die Essens-Restriktionen auf Ihr Wohlbefinden?
Weil wir keine Kohlenhydrate essen durften, gerieten wir voll in die Unterversorgung, und ich fror in den Nächten jeweils sehr stark. Ausserdem verheilten Verletzungen nicht, ich war depressiv verstimmt und dachte während 24 Stunden am Tag ans Essen. Das war natürlich für meine Leistung nicht förderlich. Ich habe in dieser Zeit so viel Energie mit Nachdenken übers Essen verschwendet. Wäre ich ein, zwei Kilos schwerer gewesen, hätte mir dadurch aber übers Essen keine Gedanken machen müssen, wäre ich bestimmt viel leistungsfähiger gewesen.

Als Aussenstehender denkt man unweigerlich: Warum haben Sie Magglingen nicht einfach verlassen?
Es gab immer wieder Momente, in denen ich kurz davor war. Doch ich war mir immer bewusst: Wenn ich jetzt nach Hause gehe, ist es vorbei mit meinem Traum und meiner Karriere als Kunstturnerin. Deshalb war ich dem Missbrauch machtlos ausgeliefert. Gleichzeitig war auch ich selber getrieben vom Erfolg. Auch ich wollte mich bis zum Maximum plagen, um noch besser zu werden und die Grenzen auszuloten, denn ich hatte das Ziel, die beste Kunstturnerin der Schweiz zu werden.

Ariella Kaeslin und ihr Hund Clowie.
Foto: Benjamin Soland

In Ihrer Biografie «Leiden im Licht» schreiben Sie folgenden Satz, den Ihr Trainer zu Ihnen gesagt hat: «Wenn du tot umfallen würdest, könnte ich dennoch gut zu Abend essen.»
Das hat er wirklich zu mir gesagt. Ein anderes Mal, als ich im Training vom Barren herunterfiel, meinte er nur: «Hoffentlich hats wehgetan.» Er hat mir das Unbeschwerte, Spielerische, Rebellische ausgetrieben und meinen Charakter und meine Persönlichkeit gebrochen. Ich arbeite noch heute mit professioneller Hilfe daran, dass ich meinen Ursprungscharakter zurückgewinne.

Ist das Frauenkunstturnen besonders anfällig für Missbrauch?
Ja, weil es eine Kindersportart ist. In der Zeit wurde ich vom Mädchen zur Frau. Doch das Idealbild einer Kunstturnerin ist das von einem achtjährigen Mädchenkörper mit den Muskeln eines 18-jährigen Mannes und der femininen Ausstrahlung einer Frau. Dieses Idealbild zu erreichen, ist unmöglich. Trotzdem versucht man es und verpufft dabei so viel Energie im Kampf, die Entwicklung vom Mädchen zur Frau zu unterdrücken. Mit fatalen Folgen. Ich glaube schon, dass das Kunstturnen grenzüberschreitende Handlungen und Übergriffe begünstigt, weil die Meitli und auch die Buben halt noch nicht abschätzen können, was für Konsequenzen solche Trainer und ihre Methoden auf ihr ganzes Leben danach haben können.

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«Ein Zustand, der das Leben nicht mehr lebenswert machte»
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Haben Sie heute eine Erklärung dafür, warum dieser Trainer so mit Ihnen umging?
Ich glaube, er hat es nicht böse gemeint. Er wollte einfach den maximalen Erfolg rausholen. Was er damit bei uns Turnerinnen für Schäden angerichtet hat, war er sich wohl nicht bewusst.

Das klingt jetzt sehr versöhnlich.
Ich bin heute an einem Punkt angelangt, an dem ich alles relativ gut verarbeitet habe. Ich habe mittlerweile eher Mitgefühl mit ihm und verstehe auch, dass ein Kunstturn-Trainer sehr viel mitbringen muss. Er muss fachlich top und ein guter Pädagoge sein. Er muss empathisch, aber trotzdem hart sein. Und er muss ein Stück weit auch eine Vaterrolle einnehmen. Dass das möglich ist und man damit trotzdem Erfolge feiern kann, hat sein Nachfolger Zoltan Jordanov bewiesen.

2007 wurde der umstrittene Trainer endlich abgesetzt. Auch weil Sie und Ihre Kolleginnen sich gegen ihn auflehnten. Was machte der Nachfolger Jordanov anders?
Auch er war hart, akzeptierte aber jede Athletin so, wie sie war. Er war ein Paradebeispiel für gesunden Spitzensport, sofern man Spitzensport überhaupt gesund nennen darf.

Mit ihm kamen auch die Erfolge. Sie wurden Europameisterin, Vize-Weltmeisterin und Olympia-Fünfte. Konnten Sie diese Erfolge überhaupt geniessen?
Ich habe sie sehr genossen und ausgiebig gefeiert, weil ich auch bei Erfolgen extrem war. Aber nur sehr kurz, höchstens einen Tag. Richtig geniessen und loslassen konnte ich während meiner ganzen Karriere nie. Ich legte immer gleich den Fokus wieder auf die nächsten Ziele und verlangte noch mehr von mir. Auch dieses Verhaltensmuster hing mit meinem vorherigen Trainer zusammen. Nach Erfolgen sagte er mir immer wieder: «Du musst nicht meinen, dass du gut bist, nur weil du jetzt mal gewonnen hast. Du musst noch mehr trainieren. Du musst noch besser werden.» Er hat uns bewusst kleingehalten. Rückblickend staune ich, wie leistungsfähig mein Körper damals war, obwohl meine psychischen und physischen Ressourcen nicht respektiert worden waren.

2011 traten Sie zurück. Warum?
Ich konnte einfach nicht mehr. Ich war seit Jahren immer müde, lag alle zwei Wochen mit Fieber im Bett, hatte kognitive Störungen. Wenn ich einen Zeitungsartikel las, wusste ich am Ende nicht mehr, was ich gelesen hatte. In Gesprächen konnte ich meinem Gegenüber nicht mehr richtig folgen. Mein Hirn konnte zu diesem Zeitpunkt nichts mehr aufnehmen und verknüpfen. Dadurch bekam ich oft das Gefühl, dumm zu sein. Und auch die Emotionen waren weg, ich war innerlich tot. Ein Zustand, der das Leben nicht mehr lebenswert machte. Doch lange Zeit wusste ich selbst nicht, woran ich litt.

Was sagten die Ärzte?
Die Sportärzte nahmen mir immer wieder Blut ab und untersuchten es. Ich wollte unbedingt eine Diagnose, bekam aber keine, weil die Werte okay waren. Doch dann sah ich einen TV-Beitrag über den ehemaligen Skispringer Sven Hannawald, der darin über seine Depression sprach. Da wurde mir bewusst: Mir geht es genauso wie ihm. Das war eine Erleichterung. Endlich wusste ich, was ich hatte: eine Depression, ein Burnout, eine massive Essstörung. Plötzlich hatte ich aber auf einmal auch viel Zeit, was neu und schwierig für mich war.

«Ich fühle mich heute wohler als damals», sagt Ariella Kaeslin über ihr Befinden als Ex-Sportlerin.
Foto: Benjamin Soland

Wie meinen Sie das?
Ich turnte, seit ich vier war. Mein ganzes Leben war zuvor geregelt, und auf einmal hatte ich eine leere Agenda vor mir. Als Spitzensportlerin kümmerten sich viele Menschen und der Verband um mich. Doch nach dem Rücktritt stand ich auf einmal allein da. Zudem brachte die Transformation vom Spitzensport ins normale Leben viele Herausforderungen mit. Ich wusste nicht, wie man Rechnungen bezahlt, weil das früher alles mein Management gemacht hatte. Über was redet man im Alltag mit Menschen, wenn man zuvor immer nur übers Kunstturnen geredet hat? Wie trennt man den Abfall?

Der Tiefpunkt kam aber erst noch, als Sie 2011 allein nach Asien reisten.
Ich brauchte kurz nach dem Rücktritt einen Tapetenwechsel, doch mir ging es zu diesem Zeitpunkt psychisch extrem schlecht. Als ich in Tokio war, hatte ich eine grosse Krise.

In Ihrem Buch heisst es: «Wenn ich einen Knopf hätte drücken können und nachher tot gewesen wäre, hätte ich den Kopf gedrückt.» Dachten Sie konkret an Selbstmord?
Daran gedacht habe ich, aber die Handlungsintention dazu hatte ich nicht. Ich wusste einfach: Wenn mein Leben nun so weiter geht, macht es keinen Spass mehr. Deshalb holte ich mir professionelle Hilfe.

War es für Sie schwierig, Hilfe anzunehmen?
Nein, ich war einfach nur froh, dass ich endlich wusste, woran ich litt. Dank einer Ernährungspsychiaterin, eines Psychologen und eines Psychiaters kämpfte ich mich Schritt für Schritt ins Leben zurück. Ich setzte mir neue Ziele, suchte mir neue Hobbys und gab meinem Tag eine gesunde Struktur. Das alles hat mega viel Zeit gebraucht.

Hier findest du Hilfe

Diese Stellen sind rund um die Uhr für Menschen in suizidalen Krisen und für ihr Umfeld da:

Adressen für Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben

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Sie gingen dann mit Ihren psychischen Problemen auch an die Öffentlichkeit.
Damals war das noch ein grosses Tabuthema, und viele rieten mir vor diesem Schritt ab. Sie meinten, ich solle das nicht kommunizieren, weil das mein Image kaputt machen würde. Doch ich bin heute mega froh, dass ich das so offen kommuniziert habe und damit auch anderen Menschen in ähnlichen Situationen Mut machen kann.

2021 machten Sie ebenfalls öffentlich, dass Sie bisexuell sind. Warum dieser Schritt?
Aus den gleichen Gründen. Weil es noch zu wenige Vorbilder gibt. Als ich mich in eine Frau verliebte, dachte ich zuerst: Shit, was läuft da? Dann habe ich mich damit auseinandergesetzt und plötzlich gedacht: Cool, hier geht eine neue Welt für mich auf. Ich schick mich jetzt voller Vorfreude rein in diese Welt.

Wie sieht Ihr Leben heute aus?
Schön. Ich lebe in einer glücklichen Beziehung und habe soeben mein Studium in Physiotherapie abgeschlossen. Nun ist es mein Ziel, als Physiotherapeutin zu arbeiten und weiterhin Referate und Workshops zum Thema mentale Gesundheit zu geben.

Kommen wir zum Abschluss nochmals auf die Waage zu sprechen. Hätten Sie heute ein Problem damit, sich auf die Waage zu stellen?
Nein, ich habe mittlerweile einen relativ gesunden Umgang mit dem Essen und meinem Körper gefunden. Ich fühle mich heute wohler als damals, obwohl ich weniger fit und obwohl ich schwerer bin als damals. Gleichzeitig steckt die Spitzensportlerin noch immer in mir drin. Ich fühle mich noch heute am wohlsten, wenn ich mich einmal pro Tag aus der Komfortzone raus bewege und ein bisschen leiden muss.

Wenn Sie heute auf Ihre Karriere als Sportlerin zurückblicken. War es das alles wert?
Ja, heute sehe ich das alles viel positiver. Ich bin stolz auf meinen Weg, den ich gegangen bin.

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