«Heute würde ich nicht mal die Quali überstehen»
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25 Jahre nach Olympia-Erfolg:«Heute würde ich nicht mal die Quali überstehen»

Snowboard-Legende Gian Simmen
«Dann durfte ich meine tote Tochter in den Arm nehmen»

Vor 25 Jahren sprang er in Nagano zu Olympia-Gold. Hier erzählt Gian Simmen (45), warum er eigentlich damals nur nicht Letzter werden wollte, weshalb ihn Beni Thurnheer massregelte und wie er den Tod seiner Tochter verkraftet hat.
Publiziert: 22.02.2023 um 10:14 Uhr
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Aktualisiert: 19.11.2024 um 14:16 Uhr
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Vor 25 Jahren trumpfte Gian Simmen bei den Olympischen Spielen von Nagano gross auf.
Foto: BENJAMIN SOLAND
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Daniel LeuStv. Sportchef

Herr Simmen, was machen Sie am 12. Februar?
Gian Simmen: Das weiss ich noch nicht. Ich werde aber in den Tagen davor sicher meinen Olympia-Run von 1998 in die Pipe zaubern und ihn am 12. Februar auf Instagram stellen, denn das hat seit Jahren Tradition.

Ihr Olympia-Gold in der Halfpipe jährt sich am 12. Februar bereits zum 25. Mal. Haben Sie den ganzen Run noch drauf?
Letztes Jahr hab ich ihn noch hingekriegt.

Warum machen Sie das?
Ich möchte damit diesen speziellen Tag ehren und mir natürlich auch beweisen, dass ich es immer noch drauf habe.

Anmerkung der Redaktion

Dieses Interview mit Gian Simmen wurde im Rahmen der SonntagsBlick-Serie «Wir waren Helden» am 22. Januar 2023 erstmals publiziert.

Dieses Interview mit Gian Simmen wurde im Rahmen der SonntagsBlick-Serie «Wir waren Helden» am 22. Januar 2023 erstmals publiziert.

Hand aufs Herz: Was wäre mit Ihrer Leistung von 1998 heute noch möglich?
(Lacht) Gar nichts, man hätte nicht mal den Hauch einer Chance, sich für Olympia zu qualifizieren.

In Ihrer Kindheit fuhren Sie zuerst Ski. Hätten Sie es in dieser Sportart auch packen können?
Nein, ich fuhr wie ein schlecht geformter Hornschlitten, denn ich wurde mit diesen zwei langen Latten einfach nicht warm. Als ich mir mit zehn Jahren beim Skifahren den Daumen brach, wusste ich: Das ist nichts für mich.

Wie kamen Sie dann zum Snowboard?
Im Sommer 1988 stand ich zum ersten Mal in meinem Leben auf einem Skateboard. Es war Liebe auf den ersten Blick. Damit konnte man springen und Kurven fahren. Das entsprach meinem Naturell. Zu meinem zwölften Geburtstag 1989 wünschte ich mir dann Geld, um mir ein Snowboard zu leihen. Als ich das Geld geschenkt bekam, ging ich in den Shop rein und kam mit einem Crazy-Banana-Snowboard wieder raus, leuchtgelb mit schwarzer Schrift. Danach ging ich für eine Woche in die Snowboardschule, und seitdem war es um mich geschehen.

Das ist Gian Simmen

Der Bündner Snowboarder gewann bei der Olympia-Premiere 1998 in Nagano Gold in der Halfpipe. 2001 und 2002 wurde er Weltmeister. 2013 beendete er seine Karriere.

Heute arbeitet er im Marketing der Jungfraubahnen, ist im Winter für den Snowpark zuständig und setzt Events um. An Snowboard-Wettkämpfen ist er ausserdem für SRF als Experte im Einsatz.

Der 45-Jährige wohnt mit seiner Familie in Krattigen BE. Seine vier Söhne fahren sowohl Ski als auch Snowboard.

Der Bündner Snowboarder gewann bei der Olympia-Premiere 1998 in Nagano Gold in der Halfpipe. 2001 und 2002 wurde er Weltmeister. 2013 beendete er seine Karriere.

Heute arbeitet er im Marketing der Jungfraubahnen, ist im Winter für den Snowpark zuständig und setzt Events um. An Snowboard-Wettkämpfen ist er ausserdem für SRF als Experte im Einsatz.

Der 45-Jährige wohnt mit seiner Familie in Krattigen BE. Seine vier Söhne fahren sowohl Ski als auch Snowboard.

Träumten Sie damals schon von einer Karriere als Profisportler?
Nein, es ging um ein Lebensgefühl. Es waren Bretter, die die Welt bedeuteten. Wenn einer von unserer Clique nach Zürich ging, kaufte er dort alle Snowboard-Heftli. Darin entdeckten wir Tricks, die wir dann versuchten nachzumachen. Meine Eltern führten damals ein Hotel in Arosa. Im Garten bauten wir im Winter überall Kicker und sprangen drüber. Wir wussten auch immer, wo es in Arosa nach der Schneeräumung grosse Schneehügel gab und wo noch nicht gekiest wurde. Das alles nutzten wir, um uns mit dem Board auszutoben.

Der Legende nach sollen Sie auch nachts trainiert haben.
Als ich später in Chur zur Schule ging, kam ich immer erst abends im Dunkeln zurück. Also baute ich ein paar Bau-Scheinwerfer auf, damit ich auch spät abends fahren konnte. Doch dann bekam ich Ärger mit meinem Vater.

Warum?
Meine Schulnoten waren nicht sehr gut. Da sagte er mir: «Wenn deine Noten nicht besser werden, ist das Snowboard weg.» Für mich war da klar: Bring gute Noten heim, und dann kannst du bis 22 Uhr die Scheinwerfer brennen lassen.

Wie wurde dann aus Gian Simmen ein Sportler?
Jahrelang hatte ich jeden Kicker und jede Halfpipe, die ich benutzte, selbst geschaufelt. Irgendwann sagte ich mir: Wenn ich an Wettkämpfe gehe, macht das jemand anders für mich. Das ist doch mega praktisch. Im November 1996 entschied ich schliesslich, Profi zu werden.

Was auffällt: Bis Nagano 1998 hatten Sie kaum Erfolge.
Mein erstes Jahr war eine Riesenkatastrophe, aber mir machte es Spass, einen Winter lang durch Europa zu reisen und Wettkämpfe zu bestreiten. Zu Beginn des Olympia-Winters lief es deutlich besser, und auf einmal hiess es: Der kleine Gian darf nach Nagano.

Mit welchem Ziel reisten Sie nach Japan?
Ich hatte zuvor noch nie einen internationalen Wettkampf gewonnen. Deshalb wollte ich einfach nicht Letzter werden. Zweitletzter zu werden, wäre schon voll okay gewesen.

Es kam anders. Nach Run 1 lagen Sie bereits in Führung.
Damals musste man zwei Runs fahren, und die Ergebnisse wurden addiert. Selbst nach Run 1 dachte ich noch: Wenn ich den zweiten auch gut runterbringe, lande ich irgendwo im Mittelfeld. Während des zweiten Runs entstand dann das legendäre Bild, auf dem meine Mütze und meine Skibrille wegflogen. Das ist mir übrigens während meiner ganzen Karriere nur einmal passiert. Als ich unten ankam, musste ich lange auf die Wertung warten. Das war damals alles noch nicht digital, die Anzeige war wie früher an den Bahnhöfen. Irgendwann ratterte es, alle Namen rutschten eins nach unten, und oben tauchte plötzlich mein Name auf.

Was dachten Sie in dem Moment?
Endlich habe ich mal einen Wettkampf gewonnen. Dass ich nun Olympiasieger war, habe ich lange nicht realisiert.

Doch dann ging der ganze Rummel los.
Du bist von der einen auf die andere Sekunde voll in der Mühle drin. Es wird dir ein Handy gereicht, mit deinen Eltern am Telefon. Die haben nur noch geweint, was ich überhaupt nicht kapiert habe. Dann ging es zum olympischen Village für die Siegerehrung. Doch die musste verschoben werden, weil die deutsche Siegerin Nicola Thost bei der Dopingprobe nicht brünzeln konnte. Also ging es weiter ins House of Switzerland. Dort hatte ich so Hunger, dass ich selber in die Küche marschierte und gleich dort eine Wurst mit Röschti ass. Ich dachte die ganze Zeit: Lasst mich endlich mal geniessen, dass ich das erste Mal überhaupt einen Wettkampf gewonnen habe. Ich wäre deshalb am liebsten allein in den Wald gegangen, doch das war nicht möglich.

Sie wollten dann direkt nach Hawaii fliegen.
Als Medaillengewinner bist du verpflichtet, nach Hause zu fliegen und dich dort den Fans zu präsentieren. Ich habe mich dagegen gesträubt, hatte aber keine Wahl. Also entschied ich mich, nach Zürich und einen Tag später von dort weiter nach Hawaii zu fliegen.

Wie war der Empfang in Zürich?
Bevor ich in die Ankunftshalle geführt wurde, kam Beni Thurnheer auf mich zu und sagte: «Wir sind gleich live. Mach keinen Seich und nimm während der Sendung den Kaugummi aus dem Mund.»

Haben Sie das befolgt?
Natürlich. Beni war der Grösste. Wenn er das sagt, macht man das.

Sie fielen damals auch mit Ihren Sprüchen auf: «64 Kilogramm Bündnerfleisch» oder «1,74 Meter gross, krumme Nase, abstehende Ohren und eine dumme Klappe.»
Ich hatte nie eine Medienschulung, so bin ich einfach. Die Medien nahmen das natürlich dankbar auf. Ich konnte gerade Sätze sagen und war auch noch ein bisschen witzig, frech und anders. Ich war dann voll im Rösslispiel drin und machte viel mit. Dadurch kam das, was ich am meisten liebte, viel zu kurz: das Snowboarden. Vor Nagano war meine Agenda leer und danach übervoll, nur leider nicht mit Snowboarden. In der Zeit habe ich gemerkt, wie sehr mir das Boarden fehlt.

Dafür verdienten Sie gutes Geld.
Ich blieb mir aber immer treu. Einmal wollte mich Ovomaltine sponsern. Ich habe das dann mit meinen Brüdern und Kollegen lange diskutiert. Die wollten mir so viel zahlen, wie meine Kollegen in zwei Jahren verdienten. Doch mir schmeckte Ovomaltine einfach nicht. Deshalb lehnte ich ab, was die anderen nicht verstanden.

Sie fuhren noch bis 2013 weiter. Was passierte eigentlich zwischen 1998 und Ihrem Rücktritt?
Einiges. Zwei WM-Titel, eine grosse Olympia-Enttäuschung 2002, diverse Weltcupsiege auf der ganzen Welt, ein paar Verletzungen, zahlreiche Video- und Fotoaufnahmen, ein Leben als Cervelat-Promi (lacht) und das Wichtigste: Ich lernte meine heutige Frau Petra kennen.

Sie haben vier Söhne, die mittlerweile zwischen 7 und 14 Jahre alt sind. Doch Sie als Paar mussten auch einige private Schicksalsschläge verdauen.
Petra hatte mehrere Fehlgeburten. Besonders schlimm war es 2010.

Was war da passiert?
Meine Frau war im neunten Monat schwanger. Wir waren an einer Hochzeit von Freunden in Samedan. Plötzlich sagte sie: «Irgendetwas stimmt nicht. Ich spüre mein Baby nicht mehr.» Wir fuhren dann gleich in den Spital. Dort wurde uns mitgeteilt, dass das Baby tot ist. Die Ärzte empfahlen dann, dass es sinnvoll wäre, das tote Baby trotzdem auf natürlichem Weg zu gebären, wenn man sich noch weitere Kinder wünsche. Deshalb leiteten die Ärzte die Geburt ein, und Petra brachte Jonina Natalina zur Welt. 2500 Gramm schwer und 45 Zentimeter gross. Es war wie eine normale Geburt. Ein perfektes, kleines Mädchen, nur war es totenstill. Ich durfte dann meine tote Tochter in den Arm nehmen.

Darf man fragen, wie sich das angefühlt hat?
Sie dürfen fragen, weil es wichtig ist, darüber zu reden. Solche Schicksalsschläge passieren häufiger, als man denkt. Es sollte daher kein Tabuthema sein. Meine Tochter war ganz kalt. Natürlich bricht in einem solchen Moment eine Welt zusammen. Das Loch, in das du reinfällt, ist riesengross. 

Wie oft stellt man sich die Frage nach dem Warum?
Sehr oft. Medizinisch betrachtet ist die Antwort einfach: Jonina starb wegen einer akuten Plazenta-Ablösung und hatte deshalb von der einen auf die andere Sekunde keine Sauerstoffzufuhr mehr. Dass es uns traf, war einfach nur Pech. Doch die Frage nach dem Warum bringt dich nicht weiter, sie macht dich kaputt. Je nach Sichtweise gibt es darauf keine Antwort oder gleich deren 1000.

Sie hatten damals schon den zweijährigen Sohn Niculin. Wie ging er damit um?
Meine Frau und ich flogen damals mit dem leblosen Baby nach Interlaken ins Spital. Dort durfte Niculin seine Schwester in den Arm nehmen, streicheln und Abschied nehmen. Wie Kinder in dem Alter sind: Für Niculin war es immer klar, dass seine Schwester nun halt zurück im Himmel ist, uns aber ab jetzt als Schutzengel stets begleiten wird. Diese Vorstellung wahrt er bis heute. Es gab dann auch eine Abdankung, und Jonina bekam ein Grab. Das ist noch heute sehr wichtig für uns. 

Sie bekamen danach noch drei weitere Kinder. Ich gehe davon aus, dass man nach solch einer Erfahrung Angst hat.
Unser zweiter Sohn Florin kam 2011 zur Welt. Ich war am Laax Open als Co-Kommentator, als mich Petra in der 31. Woche der Schwangerschaft anrief und sagte: «Ich habe Schmierblutungen. Ich glaube, dass die Geburt losgeht.» Ich bin dann auch nach Bern ins Spital gefahren. Als wir im Gebärsaal waren und ich auf den Überwachungsmonitor schaute, war da plötzlich eine gerade Linie. Ich brach voll in Panik aus, bis mir die Pflegefachfrau sagte, dass dies normal sei. Wenn das Baby in den Geburtskanal gleitet, verschwindet eben kurz das Signal. Als Florin gut zwei Monate zu früh, aber gesund zur Welt kam und gleich anfing, laut zu schreien, war das schon ein befreiender Moment.

Viele Paare zerbrechen an solch einem Schicksalsschlag, wie Sie ihn erlebt haben. Wie gelang es Ihnen, zusammenzubleiben?
Wir gaben uns gegenseitig den Raum, den es gebraucht hat, um das zu verarbeiten. Wir nahmen viel Rücksicht aufeinander und gingen zusammen da durch. Doch auch wir hatten unsere Krisen. In solch einer Situation braucht es nicht viel, dass es zum Streit kommt. Ein «Hey, wie häsch es?» kann im falschen Moment schon einen Krach auslösen. Weil dann der andere sagt: «Wie kannst du nur so eine Frage stellen? Du siehst doch, dass es mir nicht gut geht.» Mir halfen aber auch meine Erfahrungen als Sportler.

Wie meinen Sie das?
Als Sportler lernst du Siege und Niederlagen kennen. Diese Erfahrungen helfen dir, auch wenn sie natürlich nicht zu 100 Prozent vergleichbar sind. Und wissen Sie, was der wichtigste Grund war, warum wir zusammenblieben?

Nein.
Weil wir uns lieben. So einfach ist das manchmal.

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