Das grosse Interview mit Armon Orlik
«Ich spürte Füsse und Arme nicht mehr, hatte panische Angst»

Armon Orlik spricht vor dem Schwägalp-Schwinget im SonntagsBlick-Interview über die Homosexualität seines Bruders, über den schlimmsten Moment seiner Karriere und über seine nächsten Ziele.
Publiziert: 19.08.2023 um 20:08 Uhr
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Aktualisiert: 19.08.2023 um 20:13 Uhr
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Bärenkräfte: Armon Orlik bearbeitet Michael Ledermann.
Foto: keystone-sda.ch
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Felix BingesserReporter Sport

Armon Orlik, es heisst, Sie geben nur ungern Interviews.
Armon Orlik: Ich sitze jetzt ja hier. Derart öffentlichkeitsscheu, wie immer wieder gesagt wird, bin ich nicht. Aber grundsätzlich bin ich nicht der Mann, der das Scheinwerferlicht sucht. Mein Leben ist auch nicht so aussergewöhnlich und so spannend, dass ich immer von mir berichten müsste. 

Warum ist ein Mann von Ihrer Klasse noch nicht Schwingerkönig?
Ganz einfach, es hat bisher nicht gereicht. 2016 in Estavayer war ich ganz nahe dran. Da habe ich mich im Schlussgang von Matthias Glarner überraschen lassen. Drei Jahre später in Zug ist mir ein Gestellter im siebten Gang gegen Sven Schurtenberger zum Verhängnis geworden. In Pratteln war ich nicht in der Verfassung für den Königstitel. 

In Estavayer 2016 hat man den Eindruck gehabt, dass Sie vor dem Schlussgang fast zu siegessicher waren. War da rückblickend eine gewisse Überheblichkeit im Spiel?
Nein. Aber klar, ich habe viel riskiert und war unbekümmert und voller Selbstvertrauen. Auch vor dem Schlussgang.

Sie waren damals in der Form Ihres Lebens.
Das würde ich so nicht sagen. Drei Jahre später in Zug war ich konstanter und auch etwas stärker. In Estavayer hatte ich den Bonus der Unbekümmertheit. Und man hat mich noch nicht so gekannt. Das ist immer ein Vorteil. Kilian Wenger wurde so König. Vor zwei Jahren hat Damian Ott alle überrascht, im letzten Jahr war es Adrian Walther, der die Hierarchie durcheinandergewirbelt hat. Nicht zuletzt, weil man ihn und seinen Schwingstil noch nicht so gut kannte. Aber wenn man dann bekannter wird, fällt dieser Vorteil weg.

Ihr erster grosser Rückschlag kam im Jahr 2017, als Sie der dominierende Schwinger im Land waren. Bruno Gisler knallte Sie beim Aargauer Kantonalen wuchtig auf den Rücken. Wie haben Sie diesen Moment in Erinnerung?
Als furchtbares Ereignis. Als Kampfsportler weiss man um die grossen Gefahren und Risiken des Sports und setzt sich damit auseinander, auch mit einer möglichen Querschnittlähmung. Damals habe ich nicht gewusst, dass es so etwas wie einen spinalen Schock in der Wirbelsäule gibt. Ich lag im Sägemehl und konnte nur noch den Kopf bewegen. Die Füsse und die Arme spürte ich nicht mehr. Ich hatte panische Angst.

Und dann?
Ich habe zuerst geschrien, dann geweint, und dann war ich einfach traurig. Vielleicht war es eine Minute, vielleicht waren es zwei Minuten. Es waren auf jeden Fall die längsten Minuten meines Lebens, bis ich mich wieder bewegen konnte. Mein Gegner Bruno Gisler hat perfekt reagiert. Er hat mich die ganze Zeit beruhigt. Nach den Untersuchungen im Spital kam dann die definitive Entwarnung.

Folgeschäden gibt es keine, oder?
Einige Wochen blieb ein leichtes Kräuseln in den Armen. Aber ansonsten ist da nichts hängen geblieben. Auch mental habe ich dieses Erlebnis verarbeitet.

In den letzten drei Jahren sind bei Ihnen die grossen Erfolge ausgeblieben. Warum?
Auf der Schwägalp habe ich mir 2019 einen Bandscheibenvorfall zugezogen. Danach hat mich der Rücken immer wieder geplagt. Dann kam Corona, und dazu hat mich mein Studium zum Bauingenieur gefordert. Das hat alles einen Einfluss gehabt.

2020 hat sich Ihr Bruder Curdin als homosexuell geoutet. Der erste schwule Schwinger, das hat für viele Schlagzeilen gesorgt. Hat auch dies einen Einfluss auf Ihre Karriere gehabt?
Nicht direkt. Natürlich bin ich hin und wieder darauf angesprochen worden. Aber als Belastung habe ich das nie empfunden.

Sind Sie damals vom Schritt Ihres Bruders überrumpelt worden?
Nein. Ich wusste schon länger Bescheid, auch wenn ich das mit ihm nie gross diskutiert habe. Es war für unsere Familie keine einfache Zeit. Aber rückblickend war es für mich eine sehr lehrreiche Phase.

Inwiefern?
Ich wurde plötzlich mit etwas konfrontiert, was für mich bis dahin ein Tabu war. Ich habe mir in dieser Phase auch viele Gedanken gemacht und bin gerade bei diesem Thema sensibler, offener und wohl auch toleranter geworden. Man will sich als Mensch immer entwickeln. Das war ganz sicher ein Schritt in diese Richtung. Mein Horizont ist erweitert worden.

Hat es auch im eher konservativen Schwinger-Milieu zu einem Umdenken geführt?
Das weiss ich nicht. Ich hoffe es. Und ich hoffe auch, dass es für Menschen des öffentlichen Lebens irgendwann kein Outing mehr braucht. Wenn die sexuelle Orientierung eines Menschen niemanden mehr interessiert, dann wäre die Gesellschaft in diesem Bereich da, wo sie sein müsste.

Ihr Vater war Schweizergardist beim Papst in Rom, Ihre Mutter engagiert sich für die Kirche. Spielt der Glaube auch bei Ihnen eine grosse Rolle?
Die Religion war bei uns nie ein dominierendes Thema. Aber mein Vater ist auch Polizist. Da herrschten für uns vier Buben schon klare Regeln. Er war selber auch Schwinger. Und hat uns Buben immer gesagt, wie stolz er auf uns ist.

Man erlebt Sie selten ausgelassen und hat den Eindruck, dass Armon Orlik schon in jungen Jahren immer sehr kontrolliert und ruhig ist.
Ich bin keiner, der auf den Stühlen tanzt. Aber wenn ich mit Kollegen unterwegs bin, dann kann es auch sehr lustig und unbeschwert sein. Aber vielleicht bin ich einmal froh, dass ich in jungen Jahren nicht jeden Seich mitgemacht habe und immer vernünftig war. Ich interessierte mich schon früh für ganz viele Sachen, auch für die Politik.

Sind Sie da aktiv?
Nicht in einer Partei. Ich engagiere mich in Rapperswil für die Organisation Pro Velo. Ich habe zwar ein Auto, aber bin sehr viel mit dem Velo und dem öffentlichen Verkehr unterwegs.

Dann werden Sie im Herbst bei den Wahlen für die Grünen stimmen?
Ich bin zwar sensibilisiert für ökologische Anliegen. Aber ansonsten bin ich schon der klassische Schwinger und eher auf der konservativen Seite.

Sie wohnen auch in Rapperswil. Haben Sie eine Freundin?
Nein, ich bin Single. Eine langfristige Beziehung hatte ich noch nicht. Ich bin nicht der klassische Frauenheld. Aber irgendwann eine Familie zu gründen, ist schon ein Ziel. Derzeit koche ich noch für mich selber. 

Das, was Ihnen die Ernährungsberaterin empfiehlt?
Ich setzte mich schon früh mit der Ernährung auseinander. Und weiss mittlerweile, was für einen Spitzensportler gut ist.

Sie trainieren neu bei Robin Städler, bei dem auch Damian Ott und Werner Schlegel mit dabei sind. Hat Ihnen dieser Wechsel weg von der Bündner Heimat zu neuer Stärke verholfen?
Es war ein guter Schritt und hat neue Impulse gegeben. Ich habe jetzt mein Studium beendet und arbeite in einem 50-Prozent-Pensum als Bauingenieur. Und ich möchte im Schwingen in den nächsten Jahren schon noch einmal richtig angreifen.

Und beim Heimfest in Mollis in zwei Jahren König werden?
Ich werde da hoffentlich gesund und mit Ambitionen dabei sein. Danach schaue ich weiter. Auch das Eidgenössische 2028 kann noch zum Thema werden.

Wäre ein Sieg am Unspunnen Ende August von gleichem Wert wie ein Königstitel?
Wenn ich wählen könnte, dann würde ich lieber einen Königstitel nehmen. Das bleibt immer noch mein Traum.

Vor sieben Jahren waren Sie am Unspunnen auch nahe am Erfolg.
Ich habe mir im fünften Gang gegen Joel Wicki eine Rippenverletzung zugezogen. Dafür stand dann mein Bruder Curdin im Schlussgang.

Auf dem Brünig haben die Ostschweizer zuletzt überzeugt. Ist das Team mit Sämi Giger, Damian Ott, Werner Schlegel, Domenic Schneider, Roger Rychen, Samir Leuppi und Armon Orlik gar der stärkste Teilverband?
Wir haben eine sehr starke Mannschaft und einen tollen Teamgeist. Wir wollten auf dem Brünig auch schon mal den Stempel aufdrücken. Das ist gelungen. Aber die Berner und die Innerschweizer sind auf Augenhöhe. Der Schwingsport erlebt die spannendste Phase seiner Geschichte. Die Spitze ist so ausgeglichen und so breit aufgestellt, wie ich es noch nie erlebt habe.

Wer ist dann der stärkste Mann im Land?
Ich hatte immer den Eindruck, dass sich Sämi Giger schon in einer eigenen Liga bewegt. Aber wenn man jetzt sieht, wie sich Fabian Staudenmann noch einmal gesteigert hat und noch zwingender und überzeugender auftritt, dann ist diese Frage wieder offener. Seine Entwicklung ist schon sensationell. Was den Willen und den Ehrgeiz betrifft, ist Joel Wicki immer noch unerreicht.

Was erwarten Sie vom Schwägalp-Schwinget?
Ich war zusammen mit Sämi Giger schon einmal Co-Sieger. Eigentlich hätte ich in diesem Jahr wieder angreifen wollen. Aber nach dem Brünig-Schwinget habe ich wieder mit Rückenproblemen zu kämpfen. Nun werde ich das Training und die Vorbereitung voll auf das Unspunnen-Fest auslegen. Aber egal, wie diese Saison noch zu Ende geht, ich bin sehr glücklich, wie es gelaufen ist, und spüre eine tiefe Zufriedenheit. Ich habe wieder die Gewissheit, dass ich ganz an der Spitze mitmischen kann. Mein Selbstvertrauen ist wieder da.

Werden Sie nach der Karriere dem Schwingsport erhalten bleiben?
In irgendeiner Form sicher. Ich bin seit einigen Jahren zusammen mit Florian Gnägi, Pirmin Reichmuth, Andreas Döbeli und Steven Moser auch im Athletenrat. Wir können mit diesem Gremium mittlerweile immer mehr Einfluss nehmen.

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