Auch die klügsten Köpfe im Weltfussball liegen manchmal daneben. Pep Guardiola (52) zum Beispiel. «Vor ein paar Monaten, als Cristiano Ronaldo der einzige war, der da hinging, hat niemand gedacht, dass in der Saudi-Liga bald viele Top-Top-Spieler spielen würden», sagte der Trainer von Manchester City kürzlich. «Doch in Zukunft wird es noch mehr von ihnen geben.»
Guardiola hat sich also getäuscht. Keine Schande, sagt der Sportökonom Simon Chadwick (58), der sich intensiv mit dem Fussball in der Golfregion beschäftigt. «Ich glaube, am Anfang haben viele Leute gesagt: ‹Hey, das ist dasselbe wie damals mit China.›»
Es war 2016, chinesische Klubs kauften im grossen Stil gealterte Stars zusammen. Den Argentinier Carlos Tevez (39) zum Beispiel, Champions-League-Sieger 2008 mit Manchester United und mehrfacher Landesmeister in England und Italien, verschlug es im Januar 2017 nach Shanghai. Als er bald schon zu den Boca Juniors zurückkehrte, sprach er von «sieben Monaten Ferien», die er in China gemacht habe. Der Lohn dafür: satte 35 Millionen Franken.
Seither haben die Chinesen ihr Engagement stark zurückgefahren, die Stars sind wieder weg. Doch darauf sollte man sich bei den Saudis nicht verlassen, sagt Chadwick im Gespräch mit Blick. «Das hier ist anders. Die Saudis sind wie Katar auf Steroiden.»
Muss sich Europa Sorgen machen? «Unbedingt!»
Im Gegensatz zum kleinen Nachbarn Katar, der mit der Austragung der WM 2022 neue Sportswashing-Massstäbe setzte, hat das autoritäre Regime im Königreich Saudi-Arabien mit seinen 32 Millionen Einwohnern noch einmal grössere Pläne im Fussball. «Ich glaube nicht, dass Saudi-Arabien eine Blase sein wird, die platzt. Saudi-Arabien will eine führende Fussballnation werden. Auch wenn nicht gesagt ist, dass es erreicht, was es sich vornimmt.» Aber muss sich Fussball-Europa Sorgen machen? «Unbedingt!»
Der Brite Peter Hutton hat in den letzten Jahrzehnten in Führungspositionen für ESPN, Eurosport, IMG und Facebook gearbeitet, jetzt sitzt er im Vorstand der Saudi Pro League, die mit Fantasie-Gehältern nach Ronaldo weitere Stars wie Benzema, Kanté, Roberto Firmino, Mahrez oder Henderson geholt hat. «Ich bin seit 40 Jahren im Sport tätig und habe noch nie ein Projekt gesehen, das so gross, so ehrgeizig und so entschlossen war, ein Erfolg zu werden», sagt er der BBC. Laut dem US-Sender CBS soll der saudi-arabische Staatsfonds PIF den Klubs Al-Hilal, Al-Ittihad, Al-Ettifaq und Al-Ahly bis zum Jahr 2030 rund 20 Milliarden Franken für Transfers zur Verfügung stellen. 20 Milliarden.
«Financial Fairplay» muss die Saudi-Klubs nicht kümmern
Nur die englische Premier League (1,5 Mrd. Franken) hat diesen Sommer bislang mehr für Transfers ausgegeben als die SPL (400 Mio.). «Wenn sich das so fortsetzt, entwickelt sich der Fussball in eine Richtung, die ihm ganz sicher grossen Schaden zufügen wird», sagt Dortmunds Sportchef Sebastian Kehl im «Kicker». Fussball-Romantiker mögen über die zahnlose «Financial Fairplay»-Umsetzung der Uefa spotten – für die Saudi-Klubs gelten diese Regeln schon von vornherein nicht. Wo sich selbst europäische Mega-Klubs wie Barcelona, Real Madrid oder Manchester City an gewisse Regulierungen halten müssen, können die arabischen Klubs mit beiden Händen Geld ausgeben. Und die Fussball-Welt aus den Angeln heben.
Aber was wollen die Saudis denn am Ende erreichen? Natürlich geht es dem Regime an der Spitze des konservativen islamischen Lands, in dem Meinungsfreiheit, Frauen- und Homosexuellen-Rechte extrem eingeschränkt sind (um nicht zu sagen: inexistent), ums Image, man will im Westen als fortschrittlich und potent wahrgenommen werden – klassisches Sportswashing.
Doch für Chadwick steckt eben noch mehr dahinter. «Es geht um Sicherheit», sagt er. «Um die Sicherheit der Herrscher-Familie. Kronprinz Mohammed bin Salman weiss, dass 70 Prozent der Bevölkerung jünger als 35 ist. Man hat also eine ‹Gen Z›-Bevölkerung.» Die ist mit Instagram, Netflix, Prada-Schuhen und allem, was sonst noch an westlichen Annehmlichkeiten geschätzt wird, aufgewachsen. Und soll, einfach gesagt, ruhiggestellt werden, damit bloss niemand auf die Idee kommt, neben westlichen Konsumgütern auch Werte wie Demokratie und Menschenrechte allzu aufmüpfig einzufordern. «Die grösste Angst von Bin Salman und seiner Familie ist ein weiterer arabischer Frühling. Das will man unbedingt vermeiden. Darum sagt er: ‹Ihr wollt Ronaldo? Ihr kriegt Ronaldo!›»
Chadwicks Prognose: Die Fifa wird nach Saudi-Arabien ziehen
Und das funktioniert? «Was man nicht vergessen darf: Die Saudis sind extrem fussballbegeistert. Für Spiele von Top-Mannschaften kommen 40'000, 50'000 Menschen ins Stadion. Die Fussballkultur ist mit der in Katar nicht zu vergleichen. Die Frage wird irgendwann sein: Wie nachhaltig ist das, was da aufgebaut wurde? Können sich auch Menschen von ausserhalb des Landes für die Saudi-Klubs begeistern, in Europa, aber auch in Asien und in der arabischen Welt? Und kann die Nationalmannschaft irgendwann die Top 10 der Welt knacken? Dafür braucht es auch im Land eine Fussball-Offensive.»
Für Europa und seinen Fussball bedeutet das: Die Transfersummen dürften hoch bleiben, die Angebote für die Stars verlockend. Nach Ronaldo und Benzema könnten bald Lewandowski, Haaland und Bellingham ins Visier der Saudis geraten. Und auch diesen Sommer bleibt noch viel Zeit. Das Transferfenster in Saudi-Arabien ist drei Wochen länger geöffnet als in Europa, was unlängst Liverpool-Coach Jürgen Klopp dazu brachte, die Fifa und die Uefa zum Handeln aufzurufen. Nur: Die Uefa kann gar nicht viel tun. Und die Fifa? «Die wird nichts unternehmen», sagt Chadwick. Viel eher werde sich der Weltverband anpassen. «Meine Prognose: Die Fifa wird nach Saudi-Arabien ziehen, noch vor dem Ende dieses Jahrhunderts.»