Blick: Herr Götschi, haben Sie Ihre erfolgreiche Karriere als Bobpilot einem Küchendienst während der Rekrutenschule zu verdanken?
Reto Götschi: Ja, das kann man so sagen. Ich hörte damals während der RS in der Küche Radio. Als ein Beitrag über einen Bremsertest des Schweizerischen Bobverbands kam, bei dem sie Nachwuchsanschieber rekrutierten, wurde ich hellhörig und dachte, so bekomme ich sicher einen Tag frei, ich will dort mein Glück versuchen. Doch leider wurde mein Gesuch abgelehnt.
Warum?
Sagen wir es so: Ich war während der RS nicht der Bravste. Deshalb hiess es nein, und ich konnte erst ein Jahr später zum Bremsertest.
War es Liebe auf den ersten Blick?
Ja, mir hat es sofort Spass gemacht. Beim Test wurde ein Pilot auf mich aufmerksam. Weil bei dem kurzfristig zwei Bremser abgesprungen waren, wurde ich quasi über Nacht Team-Mitglied. Doch ich war eigentlich noch gar nicht bereit dazu.
Wie meinen Sie das?
Ich habe damals als Maurer auf dem Bau Akkord gearbeitet. Neun Stunden jeden Tag. Ich schlief zu wenig, ass schlecht und habe nicht auf die Erholung geachtet. Doch mein Wille und Einsatz sowie die Leidenschaft waren umso grösser.
Der Zürcher gewann 1994 Olympia-Silber im Zweierbob und wurde 1997 im kleinen Schlitten Weltmeister. Insgesamt gewann er elf SM-Titel. 1997 wurde sein Viererbob zum Schweizer Team des Jahres gewählt. 2002 beendete der zweifache Vater seine Karriere.
Heute ist der 57-Jährige Besitzer der Quarzsand-Firma Urs Lanz AG. «Die Firma läuft super, und mir geht es hervorragend», so Götschi.
Der Zürcher gewann 1994 Olympia-Silber im Zweierbob und wurde 1997 im kleinen Schlitten Weltmeister. Insgesamt gewann er elf SM-Titel. 1997 wurde sein Viererbob zum Schweizer Team des Jahres gewählt. 2002 beendete der zweifache Vater seine Karriere.
Heute ist der 57-Jährige Besitzer der Quarzsand-Firma Urs Lanz AG. «Die Firma läuft super, und mir geht es hervorragend», so Götschi.
Wie wurde aus dem Bremser Götschi der Pilot Götschi?
Nach zwei Jahren als Bremser nahmen wir an der B-Schweizermeisterschaft in St. Moritz teil. Da sagte mir mein Pilot Stefan Marty: «Wenn wir gewinnen, musst du am nächsten Tag selber mal als Bobpilot fahren.» So kam es dann auch.
Waren Sie als Pilot von Anfang an schnell?
(Lacht) Naja, es gab schon gewisse Anlaufschwierigkeiten. Ich kaufte mir dann einen eigenen Bob und bildete zusammen mit meinem jüngeren Bruder Roger ein Team. Als wir in Königssee trainierten, stürzten wir bei sieben Fahrten gleich fünfmal. Dabei brach ich mir das Schlüsselbein. Doch spätestens dort war mir klar: Ich bin fürs Bobfahren geboren. Deshalb gab ich nicht auf, kämpfte weiter und schaute, dass ich möglichst schnell wieder gesund werde, damit ich wieder Bob fahren konnte.
Das Bobteam Götschi/Götschi gab es aber nicht allzu lange.
Ich wollte gewinnen. Als ich spürte, dass mein Bruder nicht gut genug war, entschied ich, ihn auszuwechseln. Das war zwar brutal, doch für den Erfolg kannst du keine Kompromisse eingehen.
Ein Plan, der aufging. 1994 wären Sie als 28-Jähriger, für einen Bobfahrer noch sehr jung, beinahe Zweierbob-Olympiasieger geworden.
Ich reiste ohne Druck nach Lillehammer. Nach drei Läufen führte ich vor dem grossen Gustav Weder. Da kam der Trainer zu mir und sagte: «Riskiere im vierten Lauf nicht zu viel. Wenn du runterkommst, hast du eine Medaille.» Das war falsch. Zusammen mit meinem Bremser Guido Acklin entschieden wir, dass wir früher in den Bob einsteigen. Dadurch fehlte uns das Tempo, und im unteren Teil machte ich auch noch einen Fehler. Deshalb holten wir nur Silber, was mich fürchterlich aufregte. Ich war richtig sauer auf mich, weil ich nicht Vollgas gegeben hatte, was ich sonst immer machte.
Wenige Tage später waren Sie noch hässiger.
Für den Vierer musste ich eine interne Quali fahren. Da Weder schon qualifiziert war, wollte ich seine Kufen haben, aber er gab sie mir nicht, obwohl wir im gleichen Bobklub waren. Ich hatte dann mit meinem Material keine Chance und verpasste so den Vierer-Wettbewerb. Als im Ziel unten Heinz Pütz mit dem Mikrofon auf mich wartete, sagte ich vor laufenden Kameras: «Ich habe es satt, ständig von allen Seiten verarscht zu werden. Jetzt mache ich eine Pause und starte vielleicht erst in zwei Jahren wieder – für Liechtenstein.» Seitdem war ich der Rebell Reto Götschi.
Drei Jahre später holten Sie sich aber Ihren grossen Titel: In St. Moritz wurden Sie Zweierbob-Weltmeister. Für die Schweiz …
Wenige Wochen zuvor fand dort die SM statt. Mir fiel dabei auf, dass im unteren Teil der Nachwuchspilot Jean-Michel Grept schneller war. Da er die gleiche Linie wie ich fuhr, wusste ich, dass es am Bob liegen musste. Also ging ich zu ihm hin und sagte, dass ich seinen Bob mieten wolle. Er sagte mir, dass ich ihn für 10'000 Franken für eine Woche haben könne.
Was antworteten Sie ihm?
Ich sagte ihm, dass ich ihn nicht kaufen, sondern nur mieten wolle. Doch er ging mit dem Preis nicht runter. Obwohl ich kein Geld hatte, willigte ich ein, und zwar aus zwei Gründen.
Welche waren das?
Erstens wusste ich ja, dass der Bob schnell ist, und zweitens, was noch fast wichtiger war: Wenn ich seinen Schlitten habe, konnte ihn kein anderer haben. Ob ich ihn dann gefahren wäre, war eigentlich egal, ich hätte ihn auch in den Keller stellen können.
Sie wurden dann aber mit diesem Bob Weltmeister.
Nach den ersten beiden Läufen führten wir schon klar. Am Samstagabend kam deshalb der Präsident meines Fanklubs auf mich zu und fragte mich, ob wir schon Weltmeister-Shirts drucken können. Ich sagte Ja, und so verkauften wir am Sonntag nach meinem WM-Titel unglaublich viele Shirts, was ein gutes Geschäft war.
Doch nun hatten Sie ein Problem: Nach einer Woche mussten Sie den Bob wieder an Grept zurückgeben.
Ich ging deshalb wieder zu ihm und sagte ihm, dass ich seinen Bob nun kaufen möchte. Er verlangte 30'000 Franken. Als ich ihm erklärte, dass ich ja schon 10'000 Franken Miete bezahlt hätte, meinte er nur: «Wenn du ihn nicht für 30'000 Franken kaufen willst, kriegt ihn ein anderes Team.» Also gab ich ihm zähneknirschend die 30'000 Franken.
Nach der Zweier-WM fand aber erst noch die Vierer-WM statt.
Mein Ziel war klar: Ich wollte Doppel-Weltmeister werden, doch die Woche fing schwierig an.
Warum?
Nach dem Zweier-WM-Titel feierten wir so richtig. Als wir am nächsten Tag die ersten Vierer-Trainings fuhren, hatte ich noch Restalkohol im Blut. Ich kam deshalb immer zu spät aus den Kurven raus, und wir kassierten viele Schläge. Ich war nicht fähig, den Schlitten zu lenken. Als wir unten ankamen, sagte meine Crew: «Mit dir fahren wir nicht mehr.»
Der 1. Februar 1997 ging dann als historischer Tag in die Schweizer Sport-Geschichte ein.
Wir feierten einen Dreifachsieg, und ich war tatsächlich Doppel-Weltmeister. Dachte ich zumindest. Doch nach der Siegerehrung hiess es irgendwann, es sei ein Protest gegen die Schweizer eingelegt worden. Später kam raus, dass bei allen Schweizern bei den Achsen verschraubte Teile verwendet worden waren, was nicht legal war. Deshalb wurden danach alle disqualifiziert, obwohl wir definitiv nicht bescheissen wollten. Danach hätten wir eigentlich unsere Goldmedaillen wieder abgeben müssen, ich habe sie aber einfach behalten.
Wissen Sie heute, wer Protest eingelegt hat?
Zu 100 Prozent nicht, aber ich bin davon überzeugt, dass ein Schweizer Trainer, der für eine andere Nation tätig war, die Jury sanft darauf hingewiesen hat …
Apropos Landesverrat: In Nagano 1998 gab es mal wieder Ärger mit den Kufen, weil der Deutsche Rudi Lochner seine Ihnen gab und nicht seinen Landsmännern.
Rudi war kurz zuvor zurückgetreten. Er war wie ich ein Rebell und wollte die Kufen lieber mir geben als einem Deutschen.
Wie kam so ein Deal zustande?
Ich traf mich abends mit ihm, und wir tranken bis um 2 Uhr in der Nacht sehr viel Biere, bis der Deal endlich besiegelt war. Ich musste ihm damals 30'000 Franken bezahlen. Als die Deutschen das mitkriegten, täubelten sie wie kleine Kinder. Wissen Sie, was dabei das Verrückte war?
Nein.
Die Kufen gehörten eigentlich gar nicht Rudi, sondern dem deutschen Staat. Er sagte deshalb, die Kufen seien ihm abhandengekommen.
Vier Jahre später in Salt Lake City wollten Sie wiederum Ihre Kufen nicht den Schweizern geben, sondern den Kanadiern. Warum?
Kanada ist doch ein schönes Land … Als ich sie den Kanadiern anbot, bekamen das die Schweizer mit, und der Bobverband wollte mich deshalb ausschliessen. Also rief ich meinen Hauptsponsor an und sagte ihm: «Ich bin im Seich, du musst mir helfen.» Wir setzten dann einen rückdatierten Vertrag auf, in dem stand, dass die Kufen ihm und gar nicht mir gehörten. Als der Verband die Kufen wollte, konnte ich ihnen sagen: «Die gehören gar nicht mir. Das müsst ihr mit meinem Hauptsponsor regeln.» Dadurch konnte ich die Kufen doch den Kanadiern ausleihen.
Was beim Blick auf Ihre Karriere auffällt: Es gab immer mal wieder Zoff. Warum ist das im Bobsport so?
Als Bobpilot führst du ein eigenes Unternehmen. Zu Spitzenzeiten hatte ich ein Budget von 400'000 Franken. Damit musste ich aber auch meine Bremser und meinen Staff bezahlen. Wenn es dann um die Vermarktung ging, fingen die Probleme an. Der nationale und der internationale Verband wollten die besten Werbeplätze auf dem Bob, gleichzeitig wolltest du die aber selber vermarkten, um wieder Geld reinzukriegen. Deshalb hast du deinen ganzen Körper vermarktet, so auch deinen Po, denn darauf schauen beim Anschieben schliesslich alle hin. Dieser Zoff ums Geld war ein ständiger Kampf, der unweigerlich zum Streit führte.
Sie waren auch ein Tüftler, der nichts dem Zufall überliess.
Im Bobsport gehts um Hundertstelsekunden, aber manchmal reicht bloss ein Tausendstel aus, dass die Hundertstelsekunde rüberspringt. Deshalb haben wir immer und immer wieder experimentiert. Einmal dachten wir, wir füllen den ganzen Rahmen mit Bleikügelchen, damit der Schlitten ruhiger fährt. Doch das war leider ein völliger Rohrkrepierer. Deshalb mussten wir danach alle Bleikügelchen wieder rausnehmen. Noch Monate später fanden wir immer wieder welche.
Gab es damals auch Spionage?
Sagen wir es so: Wenn von den Deutschen ein Schlitten in einer Scheune deponiert und die Tür nicht richtig zu war, habe ich das schon als Einladung interpretiert. Wir haben deshalb unsere eigenen Kufen immer mit aufs Zimmer genommen und unters Bett gelegt.
Und wie sah es mit Sabotage aus?
Das war im Gegensatz zu früher kein Thema mehr. Ich kenne aber einen Fall, in dem der Pilot den Bremskasten abgeklebt und darin kleine Schrauben deponiert hatte. Wenn der im Ziel bremste, fielen die Schrauben in die Auslaufzone, und der nächste Pilot, der im Ziel ankam, fuhr drüber, zerkratzte sich so die Kufen und konnte danach bis zum nächsten Lauf nichts mehr dagegen unternehmen.
2002 beendeten Sie Ihre Karriere. Was machten Sie danach?
Vieles. Ich hatte auch gar keine Wahl, denn nach meinem Karriereende hatte ich keinen Rappen auf der Seite. Ich arbeitete unter anderem für die Schweizer Sporthilfe und als Brunnenmeister.
2010 kehrten Sie als Geschäftsführer von Swiss Sliding in den Bobsport zurück. Doch 2015 wurden Sie dort entlassen.
Danach fiel ich in ein tiefes Loch. Ich war ganz unten und musste während eineinhalb Jahren stempeln gehen.
Wie schwer fiel Ihnen das?
Nüchtern betrachtet hatte ich kein Problem damit, schliesslich hatte ich auch während über 20 Jahren Geld in die Arbeitslosenkasse eingezahlt. Doch da in der Zeit auch noch meine Ehe in die Brüche ging, schlitterte ich in eine tiefe Lebenskrise. Ich wusste jeweils Ende des Monats nicht mehr, wie ich die Rechnungen bezahlen konnte, und ass jeweils nur noch Cervelats, weil ich pleite war.
Dachten Sie sich manchmal: Ich setze meinem Leben ein Ende?
Ja, ich hatte Selbstmordgedanken, aber keine konkreten. Das Leben machte damals einfach keinen Sinn mehr für mich. Doch dann sagte ich mir: Für mich wäre ein Selbstmord vielleicht gut, aber nicht für meine Kinder, meine Ex-Frau, meine Freunde. Irgendwann kapierte ich, dass ich mit Freunden offen über meine Probleme reden muss. Das half mir.
Wie fanden Sie den Weg zurück ins Berufsleben?
Dank eines RS-Kumpels, der eine Pneu-Garage hat. Ich half ihm dann beim Winterreifenaufziehen. Und wie es sich für einen Ex-Sportler gehört, weckte das den Ehrgeiz in mir. Wir schafften bis zu 36 Autos am Tag, und unser Rekord lag bei 12 Minuten. Sie sehen: einmal Sportler, immer Sportler.