Herr Järmann, essen Sie noch Spaghetti?
Rolf Järmann: Ja, warum fragen Sie?
Sie haben mal ausgerechnet, dass Sie in einem Jahr fünf Kilometer Spaghetti gegessen haben.
Das stimmt, als Radprofi ass ich fast jeden Tag Spaghetti. Wir haben uns damals schon sehr einseitig ernährt.
Kommen wir vom legalen zum illegalen Doping. Bei welchen Ihrer Erfolge halfen Sie mit Epo nach: Etappensieg an der Tour de France 1992?
Nein.
Sieg Amstel Gold Race 1993?
Jein, nur ein bisschen.
Gesamtzweiter Tour de Suisse 1993?
Nein, denn dort fuhr ich eigentlich gar nicht aufs Gesamtklassement.
Sieg Amstel Gold Race 1998?
Ja.
Auf den ersten Blick sieht es danach aus, dass man auch ohne Doping siegen konnte.
Anfang der 90er war das noch so, da Epo noch nicht gross verbreitet war. Ende der 90er aber wäre es fast nicht mehr möglich gewesen, ohne Epo Rennen zu gewinnen.
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Wann wurde Ihnen erstmals Epo angeboten?
Das war 1992, als ich für ein italienisches Team fuhr. Zuvor startete ich für Schweizer Mannschaften. Dort hattest du schon ein schlechtes Gewissen, wenn du eine Vitamintablette genommen hast. Als ich 1992 die Etappe an der Tour de France gewonnen hatte, kam am Abend der Teamarzt zu mir und sagte: «Schau, Rolf, wir haben hier etwas, das dich noch schneller macht.»
Wie reagierten Sie?
Ich sagte, ich brauche das nicht. Danach wurde ich immer wieder ein bisschen bearbeitet. Im Team redete man offen darüber, und jeder wusste, wer was nimmt. Epo war zwar verboten, man konnte es aber noch nicht nachweisen.
Irgendwann sagten Sie nicht mehr Nein.
Ich dachte, dass es alle nehmen, und hatte gleichzeitig auch eine erfolglose Phase hinter mir. Dann kam der Sportliche Direktor und sagte: «Wir sollten langsam Erfolg haben, sonst erhältst du im Herbst keinen neuen Vertrag mehr.» Deshalb sagte ich irgendwann Ja.
Und dann spritzten Sie sich das erste Mal Epo?
Nein (lacht). Ich zahlte 1500 Franken fürs Epo und warf es zu Hause in den Abfall, weil ich beweisen wollte, dass es auch ohne Epo geht. Der Teamarzt merkte das natürlich, weil sich mein Blutbild nicht verändert hatte. Also sagte ich dann doch Ja und liess es mir von ihm spritzen, da ich selber Angst vor Spritzen hatte.
Der Thurgauer stand zwar in den 90ern häufig im Schatten von Zülle, Rominger, Camenzind und Co., konnte aber einige Erfolge feiern: zwei Siege beim Amstel Gold Race, Etappensiege an der Tour de France, der Tour de Suisse und am Giro d’Italia und den Gesamtsieg am Tirreno–Adriatico.
Als er 1991 das erste Mal zur Frankreich-Rundfahrt startete, fuhr er gleich für drei Tage ins Bergpreistrikot. Järmann: «Mein Sportlicher Leiter sagte mir damals, ich solle gleich attackieren. Also fuhr ich an der ersten Etappe nach 100 Metern allen davon, lag lange an der Spitze und sammelte die Punkte ein.»
Heute ist er Geschäftsführer von Wohnmobilland Schweiz und lebt mit seiner zweiten Frau Anita in Sevelen SG.
Der Thurgauer stand zwar in den 90ern häufig im Schatten von Zülle, Rominger, Camenzind und Co., konnte aber einige Erfolge feiern: zwei Siege beim Amstel Gold Race, Etappensiege an der Tour de France, der Tour de Suisse und am Giro d’Italia und den Gesamtsieg am Tirreno–Adriatico.
Als er 1991 das erste Mal zur Frankreich-Rundfahrt startete, fuhr er gleich für drei Tage ins Bergpreistrikot. Järmann: «Mein Sportlicher Leiter sagte mir damals, ich solle gleich attackieren. Also fuhr ich an der ersten Etappe nach 100 Metern allen davon, lag lange an der Spitze und sammelte die Punkte ein.»
Heute ist er Geschäftsführer von Wohnmobilland Schweiz und lebt mit seiner zweiten Frau Anita in Sevelen SG.
Hatten Sie ein schlechtes Gewissen?
Nicht unbedingt, ich sagte mir: Jetzt machst du halt das Gleiche wie alle anderen auch und hast endlich keinen Nachteil mehr. Nachdem ich angefangen hatte, Epo zu nehmen, war ich auch gleich wieder erfolgreich.
Sie hatten auch eine Familie zu ernähren. Dopten Sie aus finanziellen Gründen?
Hätte ich nicht gedopt, hätte ich kein Rennen mehr gewonnen und wäre irgendwann auf der Strasse gestanden. Natürlich war ich unter Druck, es zu nehmen, ohne dass jemand gesagt hätte, du musst.
Was hat Sie das Epo gekostet?
Nicht sehr viel, vielleicht 1500 bis 2000 Franken für eine dreiwöchige Kur. Ich habe jeweils nur einmal pro Jahr eine solche Kur gemacht, sonst war ich sauber. Wäre ich intelligenter gewesen, hätte ich mehr gedopt. Ich habe aber nur das gemacht, was ich mit gutem Gewissen vertreten konnte.
Woher bekamen Sie das Epo?
Ich hatte damals schon einen Computer und fälschte damit die Rezepte. Ich wollte das Epo nie übers Team beziehen, da ich ahnte: Irgendwann gibt es einen «Chlapf», und alles fliegt auf. Dann wäre mein Namen nirgendwo auf einer Liste gestanden. Deshalb ging ich mit dem Rezept jeweils in eine Apotheke.
Wie war das?
Ich kann mich noch gut ans erste Mal erinnern. Ich ging extra um 8 Uhr in die Apotheke, da es zu dieser Uhrzeit noch wenig Leute hatte, und hoffte, dass mich niemand erkennt. Nachdem ich das Epo erhalten hatte, sagte die Apothekerin zum Abschied: «Der Sport ist auch nicht mehr so günstig wie auch schon.» Danach bin ich nie mehr in diesen Laden gegangen.
Wusste Ihre Frau Bescheid?
Nein, als gelernte Krankenschwester wäre sie garantiert dagegen gewesen. Wenn ich mir das Epo selber spritzen musste, tat ich dies im Keller oder wenn sie nicht zu Hause war.
Hatten Sie nie Angst vor den Kontrollen?
Nur einmal, und da war ich sauber.
Warum?
Das war vor der Strassen-WM 1998 in Valkenburg. Ich hatte dort am Donnerstag vor dem Rennen viel trainiert und zu wenig getrunken. Dadurch stieg mein Hämatokritwert an.
Hämatokritwert müssen Sie erklären.
Das ist der Anteil roter Blutkörperchen im Blut. Mitte der 90er-Jahre hat man sich darauf geeinigt, dass ein Hämatokritwert über 50 eine Sperre von zwei Wochen nach sich zieht, da auch Epo diesen Wert in die Höhe schnellen lässt. Ich hatte damals eine eigene Zentrifuge, mit der ich selber diesen Wert messen konnte. An jenem Tag wurde ich morgens um 6 Uhr geweckt, Dopingkontrolle.
Was passierte dann?
Mir wurde Blut abgenommen. Als die Kontrolleure wieder gingen, dachte ich, jetzt teste ich mein Blut mit meiner Zentrifuge selber, dann kann ich sie mit der offiziellen Probe vergleichen. Als meine Zentrifuge einen Wert von 52 anzeigte, war ich entsetzt. Ich wechselte die Batterien aus und testete nochmals. Und wieder zeigte es 52 Prozent an.
Gerieten Sie in Panik?
Ich stieg fürs Training aufs Rad und dachte: Wenn ich zurückkomme, wird das ganze Hotel voller Journalisten sein. Ich entschied mich dann, alles zuzugeben und zu sagen, dass ich gedopt habe, obwohl ich ja zu diesem Zeitpunkt sauber war. Ich wollte meine Glaubwürdigkeit behalten. Hätte ich dann gesagt, dass ich sauber bin, hätte mir niemand geglaubt. Doch als ich zurückkam, war kein Journalist anwesend. Dann erfuhr ich, dass mein Wert bei 49,8 Prozent lag.
An der Tour de France 1998 kam es zum sogenannten Festina-Skandal. Wie froh waren Sie, dass damals vieles aufflog?
Ich dachte, jetzt wird alles besser und sauberer. Und dadurch erhöht sich auch meine Chance, dass ich mehr Rennen gewinnen kann. Ich warf deshalb die Zentrifuge und alles in einen Abfallsack und entsorgte ihn, denn ich hatte riesige Angst vor der Polizei.
Es kam anders.
Tour de Suisse 1999, Etappe nach Lausanne. Ich war in Form, und das Profil war genau auf meine Fähigkeiten zugeschnitten. Drei Kilometer vor dem Ziel dachte ich: Jetzt greife ich an. Stattdessen erhöhten 30 andere Fahrer das Tempo und hängten mich brutal ab. Da wusste ich, dass noch immer gedopt wird. Auf diesen drei Kilometern bis ins Ziel entschied ich aufzuhören, denn ich wollte nicht mehr dopen.
Normalerweise wäre Ihre Geschichte jetzt zu Ende. Sie wurden nie überführt und hätten bis an Ihr Lebensende erzählen können, dass Sie stets sauber waren.
2000 schrieb ein «NZZ»-Journalist ein Buch über den Radsport und das Thema Doping. Er fragte mich, ob ich anonym die Sicht des Fahrers schildern würde. Ich sagte zu und erzählte alles.
Was passierte dann?
Als ein Vorabdruck des Buchs in der «NZZ» erschien, rief mich Ihr Blick-Kollege an und sagte: «Rolf, das kannst nur du sein. Wir müssen jetzt die grossen Buchstaben rausholen.» Ich antwortete: «Jetzt wartest du zwei Stunden, dann hast du eine Kolumne von mir, in der ich alles zugebe und reinen Tisch mache.»
Wann informierten Sie Ihre Frau?
Erst, als ich die Kolumne schon abgeschickt hatte. In dem Moment ging es mir nicht sehr gut. Ich war mir bewusst, dass es am nächsten Tag die ganze Welt weiss.
Und wie schlimm war der Tag, als der Blick mit Ihrer Doping-Geschichte erschien?
Ich sass zittrig zu Hause und befürchtete, dass nun unzählige Journalisten anrufen. Doch es rief nur einer vom Schweizer Fernsehen an. Alle anderen schrieben einfach den Blick ab.
Sie sind seitdem einer der wenigen Radprofis, der offen über Doping redet. Warum machen das die anderen nicht?
Ich weiss es nicht. Für mich war es eine Erlösung. Vorher musste ich immer genau überlegen, was ich sage und was nicht. Ab dem Moment des Outings wurde mein Leben bedeutend einfacher.
In der Szene aber galten Sie als Nestbeschmutzer, obwohl Sie nie andere Namen nannten.
Nach meinem Karriereende hatte ich mit einem Job im Radsport geliebäugelt. Das hatte sich dann natürlich erledigt. Es gibt bis heute Profis von damals, die nicht mehr mit mir reden. Das kann ich nicht wirklich verstehen. Ich habe niemanden in die Pfanne gehauen, sondern nur meine Geschichte erzählt.
Bereuen Sie es, gedopt zu haben?
Nein, dazumal hätte ich es bereut, wenn ich nicht gedopt hätte. Ich habe andere Betrüger betrogen. Die Gelackmeierten waren nur die, die nichts nahmen. Um die tut es mir leid, aber das waren nicht viele. Und die Zuschauer erwarteten Spektakel, also boten wir ihnen Spektakel. Heute bin ich aber nicht mehr ganz überzeugt, ob das die richtige Einstellung war.
Sie sprachen auch immer über andere Themen Klartext, unter anderem in Ihrer anonymen Kolumne «Felgen-Fritz», die während Ihrer Aktivzeit im Blick erschien.
Ich habe damals einfach erzählt, was im Feld so alles passiert. Am Anfang haben viele gerätselt, wer dahintersteckt. Doch da ich einer der wenigen im Feld war, der schon einen Computer hatte, ahnten bald einige, dass ich es war.
Sie erzählten auch offen über das Thema gekaufte Siege im Radsport. Wie oft waren Sie selber involviert?
Einige Male, so zum Beispiel bei meinem Sieg am Amstel Gold Race 1998. Ich lag damals mit dem Holländer Maarten den Bakker in einer Zweiergruppe an der Spitze. Etwa zehn Kilometer vor dem Ziel sagte er bei einer Ablösung, er bezahle mir 100’000 Franken, wenn ich ihn gewinnen lasse.
Ein verlockendes Angebot.
Als er mir das anbot, wusste ich, dass er müde ist und deshalb um seinen Sieg fürchtete. Ich überlegte dann kurz und sagte ihm bei der nächsten Ablösung Nein. Rückblickend vielleicht ein idiotischer Entscheid, aber mir war in dem Moment der Sieg wichtiger als das Geld.
Haben Sie selber auch mal ein Rennen gekauft?
Ja, Schweizer Meisterschaft 1995 in Arbon. Das war mein Heimrennen, und ich war auch noch im OK tätig. Wir lagen zu viert vorne, ich, Pascal Richard, Laurent Dufaux und Felice Puttini. Ich wusste, Richard hilft mir, weil er in meinem Team war. Also bot ich Puttini 10’000 Franken, um nur noch auf Dufaux schauen zu müssen.
10’000 Franken für einen SM-Titel?
Ja, das war es mir wert. Doch Puttini hielt sich leider nicht an unsere Abmachung, deshalb wurde ich hinter ihm und Richard nur Dritter. Auf dem Podest machte ich dann einen «Riesen-Lätsch». In der Garderobe habe ich den Puttini danach so zusammengeschissen, dass ich mich selbst nicht mehr gekannt hatte. Aber wissen Sie, was mich am meisten geärgert hat?
Nein.
Hätte ich ihm kein Geld geboten, hätte ich wahrscheinlich gewonnen, weil ich der Stärkste war. Doch dadurch wog ich mich in falscher Sicherheit. Das ist die Niederlage, die mich bis heute am meisten schmerzt.
Wie sieht Ihr Leben heute aus?
Schön, doch nach meiner Karriere hatte ich eine schwere Zeit. Plötzlich brach der Radsport weg, und dann ging auch noch meine Ehe in die Brüche. Ich zog mit 38 wieder bei meinen Eltern ein, weil ich mir keine Wohnung mehr leisten konnte. In solchen Momenten habe ich mich schon gefragt, ob ich alles richtig gemacht habe. Doch dann konnte ich meine zweite Leidenschaft nach dem Radsport, die Informatik, zum Beruf machen.
Was machen Sie heute?
Ich bin Geschäftsführer von Wohnmobilland Schweiz. Ich habe das Glück, dass ich jetzt bereits zum dritten Mal ein Hobby zu meinem Beruf machen konnte.
Fahren Sie noch Rad?
Ich gebe es zu: Ich bin mittlerweile E-Bike-Fahrer. Das war ein super Entscheid. Weil die Berge immer steiler wurden, wurde Velofahren echt anstrengend …
Wie blicken Sie heute auf den Radsport?
Mich ärgert vor allem der Funk. Ohne ihn wäre der Radsport so viel spannender. Eine Aktion, wie ich sie 1990 an der Tour de Suisse gemacht habe, wäre heute nicht mehr möglich.
Was war da?
Es war die Etappe vom Tessin auf die Lenzerheide. Ich ging irgendwann zum Mannschaftswagen und sagte: «Wenn ich am Lukmanier abgehängt werde, macht euch keine Sorgen, ich werde heute gewinnen.» Ich liess mich dann abhängen und tat so, als ob ich es mit letzter Kraft auf den Pass und wieder in die Spitzengruppe geschafft hätte. Der legendäre Tour-Direktor Sepp Vögeli sprach mir noch Trost zu: «Herr Järmann, beissen Sie durch.»
Was passierte dann?
Ich spielte den sterbenden Schwan und erhielt von den anderen Fahrern sogar noch eine Cola, um wieder ein bisschen zu Kräften zu kommen. Wenn ich dann meine Ablösung fuhr, drosselte ich bewusst um etwa 1 km/h das Tempo. Da sagten sie irgendwann: «Das macht keinen Sinn mehr mit dir. Du musst keine Ablösungen mehr fahren.» Als dann der Anstieg auf die Lenzerheide losging, attackierte ich und gewann souverän die Etappe.
Hat man in solchen Situationen ein schlechtes Gewissen?
Nein, ich habe sie nicht verarscht, sie liessen sich verarschen. Zu meiner Zeit konnte man eben auch noch gewinnen, wenn man nicht der Stärkste war, sondern der Cleverste.
Die entscheidende Frage zum Schluss: Ist der Radsport heute sauber?
Meiner Meinung nach sind heutzutage die wenigsten Sportarten ganz sauber. Aber der Radsport ist bestimmt viel sauberer als zu meiner Zeit.