Herr Rama, wie fühlt man sich als Elfjähriger?
Milaim Rama: Wenn ich an meine Knie denke, fühle ich mich wesentlich älter … Ich bin ja eigentlich auch schon 46. Da ich aber an einem 29. Februar zur Welt kam, durfte ich erst elfmal meinen richtigen Geburtstag feiern.
Welche Träume hatte einst der elfjährige Milaim?
Ich ging damals davon aus, dass ich den Rest meines Lebens in meiner Heimat verbringen werde. Dass ich irgendwann mal Schweizer und Fussballprofi werden würde, hätte ich nie gedacht.
Wie sind Sie aufgewachsen?
In einem kleinen Dorf namens Zhiti, das aus etwa hundert Häusern bestand. Onkel, Cousins, Grosseltern – meine ganze Familie lebte dort. Wenn ich von der Schule heimkam, spielte ich Fussball oder half meiner Mutter, unsere Büffel auf die Weide zu treiben.
Gab es im Dorf einen Fussballplatz?
Ja, auf einem kleinen Hügel oberhalb des Dorfs. Der Platz war aber klein, sehr uneben, bestand nur noch aus Erde, und manchmal fehlten die Tore.
Als Sie dreijährig waren, begann Ihr Vater Shaqir als Saisonnier in der Schweiz zu arbeiten. Wie sehr vermissten Sie ihn?
Sehr, doch damals erging es vielen so. In der Heimat gab es kaum Jobs, deshalb arbeiteten viele Väter in Deutschland oder in der Schweiz. Meine drei Geschwister und ich waren immer sehr traurig, wenn Papa nach den Ferien wieder in die Schweiz zog. Deshalb musste meine Mutter Zejnepe auch die Vaterrolle einnehmen. Wie sie das hingekriegt hat, macht mich bis heute stolz.
Hatten Sie als Jugendlicher ein Fussball-Idol?
Marco van Basten von der AC Milan und Fadil Vokrri vom FC Prishtina. Damals spielte Prishtina in der starken jugoslawischen Liga. Für uns Kinder war es immer ein Highlight, wenn wir mal an ein Spiel nach Prishtina reisten und dort im vollen Stadion den Stürmer Vokrri bewundern durften.
In der Zeit begannen auf dem Balkan nach dem Zerfall Jugoslawiens die Unruhen. Was haben Sie davon mitgekriegt?
Ich rede eigentlich nicht sehr gern über dieses Thema, weil damals schreckliche Dinge passiert sind. Uns Kosovo-Albanern wurde es irgendwann verboten, in die Schule zu gehen. Wir lernten deshalb im Geheimen, in Kellern oder Moscheen. Es gab auch immer mehr Kontrollen. Obwohl wir damals vieles noch nicht verstanden, merkten wir, dass etwas los ist und der Krieg auch in den Kosovo kommen könnte.
Der 46-Jährige verbrachte den Grossteil seiner Karriere beim FC Thun (1997–2004, 2006–2012). Dazwischen kickte er für Augsburg und Schaffhausen. Für die Schweizer Nati bestritt er sieben Spiele. An der EM 2004 wurde er im Spiel gegen Frankreich kurz vor Schluss eingewechselt.
Rama arbeitet heute als Kundenbetreuer in einer Versicherungs- und Kreditfirma und als Spielerberater (BB Sports Management). Er ist verheiratet mit Valdete und wohnt im Aargau. Das Paar hat zwei Kinder: Alketa und Arlind.
Der 46-Jährige verbrachte den Grossteil seiner Karriere beim FC Thun (1997–2004, 2006–2012). Dazwischen kickte er für Augsburg und Schaffhausen. Für die Schweizer Nati bestritt er sieben Spiele. An der EM 2004 wurde er im Spiel gegen Frankreich kurz vor Schluss eingewechselt.
Rama arbeitet heute als Kundenbetreuer in einer Versicherungs- und Kreditfirma und als Spielerberater (BB Sports Management). Er ist verheiratet mit Valdete und wohnt im Aargau. Das Paar hat zwei Kinder: Alketa und Arlind.
Als Sie 17 waren, entschied Ihre Familie, zum Vater in die Schweiz zu ziehen. Wie schwer fiel Ihnen das?
In erster Linie freute ich mich, dass wir zum Papa in die Schweiz kommen durften und so die ganze Familie endlich wieder vereint war. Gleichzeitig war es schwierig, das Dorf, die restliche Familie und die Freunde zurückzulassen.
Können Sie sich noch an Ihren ersten Tag in der Schweiz erinnern?
Es war im Mai 1993. Wir stiegen aus dem Flugzeug, und alles war so schön und so sauber. Wir fuhren dann mit dem Zug nach Interlaken, wo mein Vater wohnte und auf dem Bau arbeitete. Ich schaute nur aus dem Fenster und sah links und rechts die schönen Landschaften und die schönen Fussballplätze.
Rückblickend gefragt: Was wäre passiert, wenn Ihre Familie geblieben wäre?
In unserem Dorf selbst gab es keine Gräueltaten, doch während des Kriegs landeten viele Leute unschuldig im Gefängnis. Es war nicht schön, was unser Volk damals erleben musste. Ich selbst habe miterlebt, wie man monatelang seine Grosseltern telefonisch nicht erreicht hatte und nicht wusste, ob sie noch am Leben sind. So etwas prägt einem.
Die Leute aus dem Balkan wurden damals von vielen Schweizern nicht mit offenen Armen empfangen. Viele galten als kriminell, als Autoraser und wurden als «Jugos» bezeichnet.
Ich möchte zuerst betonen, dass wir der Schweiz dankbar sind, dass wir aufgenommen wurden. Aber ja, es gab auch mal Beleidigungen, die wehgetan haben. Mit den Jahren nahmen aber die Vorurteile zum Glück immer mehr ab. Und mir persönlich half natürlich auch der Fussball bei der Integration.
Wie kamen Sie in der Schweiz zum Fussball?
Das war 1994. Irgendwann entdeckte ich den Fussballplatz Lanzenen in Interlaken. Ein wunderschöner Platz, grüner Rasen, grosse Goals. Da dachte ich: Hier möchte ich auch mal auflaufen. Ich ging dann mit meinem Onkel zum Klub und fragte, ob ich mitspielen dürfe.
Ich gehe mal davon aus, dass Sie mit Handkuss genommen wurden?
(Lacht) Nein! Der Trainer der 1. Mannschaft, die in der 2. Liga spielte, meinte, er hätte keinen Platz mehr frei. Das Gleiche bekam ich auch vom Coach der 2. zu hören. Doch die 3. Mannschaft aus der 5. Liga nahm mich. Also fing ich dort an. Zu Beginn hatte ich aber schon meine Startschwierigkeiten und sass auch regelmässig auf der Ersatzbank, weil ich zuvor noch nie etwas von Taktik gehört hatte und ich im Kosovo auf viel kleineren Plätzen gespielt hatte, meist sechs gegen sechs.
Doch drei Jahre später spielten Sie bereits für den grossen FC Thun. Wie kam es dazu?
Es gab Leute, die an mich glaubten, und ich war schon immer sehr ehrgeizig und wollte etwas erreichen. Nach eineinhalb Jahren in der 5. Liga schaffte ich den Sprung in die 2., später dann den in die 1. Mannschaft. Irgendwann lud mich der FC Thun mit Trainer Andy Egli zum Probetraining ein. Ich überzeugte und wechselte 1997 zum FC Thun, der eben erst in die Nati B aufgestiegen war.
Fussballprofi waren Sie aber noch immer nicht. Was arbeiteten Sie?
Ich habe in der Zeit einiges gemacht. Mal als Verkäufer bei einem Pizza-Kurier gearbeitet, mal als Hilfsarbeiter in einem Restaurant. Später arbeitete ich dann als Lagerist.
In der Saison 2001/02 begann das Fussballmärchen so richtig. Sie stiegen mit Thun in die NLA auf.
Damals war Hanspeter Latour unser Trainer. Nachdem ich im Herbst schon 15 Tore geschossen hatte, ging ich zu ihm und sagte ihm, dass ich meinen Job als Lagerist aufgeben werde, weil ich fortan zweimal pro Tag trainieren wollte. Er war kategorisch dagegen, doch ich setzte mich durch. Ich wollte das so, weil ich besser und besser werden wollte.
Wie wichtig war Latour für Ihre Karriere?
Sehr wichtig, weil er so menschlich war. Einmal kam er zu mir und sagte: «Milaim, in Interlaken gibt es doch diese Kutschen, die die Touristen durchs Städtchen fahren. Hast du das mit deiner Frau auch schon mal gemacht?» Ich antwortete: «Nein, das kann ich mir leider nicht leisten.» Also versprach er: «Wenn du im Aufstiegsspiel gegen Winterthur zwei Tore machst, kriegst du eine Kutschenfahrt spendiert.»
Haben Sie die zwei Tore erzielt?
Ja, am nächsten Tag kam Latour zu mir und gab mir zwei Gutscheine für die Kutschenfahrt. Eine kleine Geste, die sehr viel über ihn aussagt.
Auch in der NLA schossen Sie Ihre Tore.
Wenn ich heute auf die Torschützenliste 2002/03 schaue, ist das der Wahnsinn: 1. Richard Nunez, 27 Tore, 2. Christian Gimenez und Milaim Rama, je 20 Tore. Ohne den FC Thun gäbe es Milaim Rama nicht, ohne Rama gäbe es aber auch die Erfolgsgeschichte des FC Thun nicht.
Trotzdem verliessen Sie 2004 die Berner Oberländer. Warum?
Es ging nicht ums Geld, wie es oft hiess, sondern um Armin Veh. Er war damals Trainer des Regionalligisten FC Augsburg und wollte mich unbedingt. Ich unterschrieb dann einen Vierjahresvertrag, weil ich vom Projekt und den ehrgeizigen Zielen des Klubs überzeugt war.
Ein Fehler?
Nein, es war aber ein Fehler, dass ich nach einem Jahr, geprägt auch von Verletzungen, den Vertrag wieder aufgelöst habe und in die Schweiz zurückgekehrt bin, denn ein Jahr später stieg der Klub in die 2. Bundesliga auf.
Sie wechselten aber nicht zum FC Thun, der dann in der Champions League gross aufspielte, sondern zu Schaffhausen.
Ich konnte mich damals mit Thun nicht einigen, spielte deshalb ein Jahr für Schaffhausen und kehrte erst dann wieder ins Berner Oberland zurück.
2012 ging dann in Thun Ihre Karriere zu Ende. Im Streit!
Ich hatte einen kleinen Disput mit Trainer Bernard Challandes und sass danach zeitweise auf der Tribüne. Sportchef, Trainer, Milaim – am Ende geigte das alles nicht mehr so richtig. Damals zerbrach einiges. Deshalb blieb ich nach dem Karriereende auch nicht mehr im Klub.
Reden wir über etwas Schöneres. Sie waren der erste gebürtige Kosovo-Albaner, der in der Schweizer Nati auflief.
Das war unbeschreiblich und ist auch heute noch kaum in Worte zu fassen. Es ist das Schönste, was ich erreicht habe. Siebenmal durfte ich das Nati-Leibchen tragen. Viele Fussballer träumen davon, doch ich habe es geschafft.
2004 waren Sie sogar der erste Kosovo-Albaner, der an einer EM auflief.
Der ganze Kosovo war damals stolz auf mich. Es war wie im Märchen. Einer von uns kam in die Schweiz, wurde Nationalspieler, spielte ein paar EM-Minuten und ging so in die Geschichtsbücher ein. Einfach unglaublich.
2018 sorgten Ihre Nachfolger in der Nati, Xherdan Shaqiri und Granit Xhaka, mit dem Doppeladler für eine Kontroverse. Können Sie verstehen, dass das viele Schweizer aufgeregt hat?
Nein, es war doch nur eine Geste, mehr nicht. Ich hätte den Doppeladler auch gemacht.
Was auffällt: Ihre 19-jährige Tochter Alketa ging genau den umgekehrten Weg, den Sie gegangen sind.
Das stimmt. Alketa kam hier zur Welt, läuft zurzeit in der 2. Mannschaft des FCZ in der Nati B auf und spielt nun für die kosovarische Nati.
Wie kam es dazu?
Als sie 17 war, wurde sie vom kosovarischen Verband angefragt. Irgendwann sagte sie mir: «Papi, du hast für die Schweiz gespielt, und ich spiele jetzt für den Kosovo. Ich hoffe, dass ich dem Land mit meinen Leistungen etwas zurückgeben kann.» Ich bin sehr stolz, dass ein Mitglied unserer Familie nun unser Land repräsentiert. Und wissen Sie, was das Schönste ist?
Nein.
Sie spielt jetzt die Nati-Heimpartien jeweils in dem Stadion in Prishtina, in dem ich als Kind Zuschauer war.
Sie leben nun seit bald 30 Jahren in der Schweiz. Wo sehen Sie Ihre Zukunft?
Mir gefällt es hier sehr gut, doch ich kann mir schon vorstellen, mal wieder für ein paar Jahre dort zu leben, wo ich aufgewachsen bin.
Sie haben ja noch viele Jahre vor sich, Sie sind ja erst 11.
(Lacht) Das stimmt, ich bin ja noch immer ein Teenager …