Ex-Ski-Star liess Albrecht sein letztes Rennen gewinnen
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«Ein schöner Übergang»:Ex-Ski-Star liess Albrecht sein letztes Rennen gewinnen

Ski-Legende Mike von Grünigen
«Die wollten unser Baby in den Abfall werfen»

Mike von Grünigen (54) ist ein Mann der leisen Töne. Dabei hat er viel zu erzählen. Sehr viel. Hier spricht er offen über die Höhepunkte, aber auch die Tiefschläge seines Lebens.
Publiziert: 15.10.2023 um 12:09 Uhr
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Aktualisiert: 15.10.2023 um 13:21 Uhr
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1997 holte er in Sestriere den ersten von zwei WM-Titeln im Riesenslalom.
Foto: Blicksport
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Daniel LeuStv. Sportchef

Herr von Grünigen, macht ein Interview mit Ihnen überhaupt Sinn?
Mike von Grünigen: Warum fragen Sie?

Wegen Ihres Spitznamens, den Sie unter den Journalisten hatten.
(Lacht.) Sie meinen «die Plaudertasche»? So wurde ich im Ski-Zirkus genannt, weil ich doch eher schweigsam bin.

Sie haben aber viel erlebt und deshalb einiges zu erzählen. Ihre Biografie von 1998 heisst «Vom Waisenkind zum Weltmeister». Wäre das eine, die WM-Titel, ohne das andere, den Verlust der Eltern, möglich gewesen?
Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt.

Haben Sie eine Antwort darauf?
Eine abschliessende nicht, es fällt aber auf, dass viele erfolgreiche Sportler in ihrer Kindheit Schicksalsschläge verkraften mussten. Nur Zufall kann das kaum sein.

Persönlich

Der Berner Oberländer gehört zu den erfolgreichsten Schweizer Skirennfahrern aller Zeiten. 1997 in Sestriere und 2001 in St. Anton wurde er Riesenslalom-Weltmeister. Hinzu kommen zwei WM-Bronze-Medaillen und Olympia-Bronze in Nagano 1998. Insgesamt gewann er 23 Weltcuprennen und viermal die kleine Kristallkugel in der Riesenslalom-Wertung. 2003 trat er zurück.

Er lebt mit seiner Frau Anna in Schönried BE. Das Paar hat drei erwachsene Söhne – Noel, Elio und Lian.

Der Berner Oberländer gehört zu den erfolgreichsten Schweizer Skirennfahrern aller Zeiten. 1997 in Sestriere und 2001 in St. Anton wurde er Riesenslalom-Weltmeister. Hinzu kommen zwei WM-Bronze-Medaillen und Olympia-Bronze in Nagano 1998. Insgesamt gewann er 23 Weltcuprennen und viermal die kleine Kristallkugel in der Riesenslalom-Wertung. 2003 trat er zurück.

Er lebt mit seiner Frau Anna in Schönried BE. Das Paar hat drei erwachsene Söhne – Noel, Elio und Lian.

Sie waren knapp sechs Jahre alt, als Ihre Mutter aus heiterem Himmel verstarb. Können Sie sich überhaupt noch an sie erinnern?
Ich habe nur noch wenige Erinnerungen an «s’Muetti» und weiss heute nicht mehr, was ich wirklich bewusst mit ihr erlebt habe oder was ich nur aus Erzählungen kenne. Ich kann mich aber noch daran erinnern, dass sie sehr oft im Haus Jodellieder gesungen hat, aber leider habe ich ihre Stimme nicht mehr präsent.

Wie geht ein Kleinkind mit dem frühen Tod der Mutter um?
Es klingt jetzt vielleicht hart, aber ich hatte ja gar keine andere Wahl. Es war halt so. Als sie auf einmal nicht mehr da war, fokussierte ich mich automatisch auf andere.

Auf wen?
Auf meine beiden älteren Halbschwestern Ruth und Dori, auf meine fünf Jahre ältere Schwester Christine und natürlich auf «Päppel». Vor allem die Beziehung zu meinem Vater wurde nach dem Tod meiner Mutter sehr eng.

Doch am 10. November 1978 schlug das Schicksal erneut zu. Sie waren mit Ihrem Vater am Holzen, als er tödlich verunglückte.
Es war ein schöner Herbsttag, und wir waren gemeinsam im Wald am Arbeiten. Plötzlich kippte der Traktor um und begrub meinen Vater unter sich. Zuerst versuchte ich, ihn rauszuziehen, was mir aber nicht gelang. Deshalb holte ich Hilfe. Leider verstarb mein Vater später im Spital.

Das Ganze ist mittlerweile 45 Jahre her. Wenn Sie heute daran zurückdenken, welche Bilder schwirren Ihnen durch den Kopf?
Ich frage mich bis heute manchmal, was gewesen wäre, wenn ich ein paar Jahre älter gewesen wäre. Hätte ich dann die Kraft dazu gehabt, den Traktor anzuheben und ihn rauszuziehen? Mein Vater hatte ja zu diesem Zeitpunkt noch gelebt und konnte auch noch mit mir reden. Dieses Bild, wie er unter dem Traktor liegt, hat sich schon sehr stark in mein Gedächtnis eingeprägt.

Mit neun waren Sie plötzlich Vollwaise. Wie kann ein Kind das verkraften?
Damals gab es noch keine psychologische Hilfe. Es musste einfach weitergehen. Wie ich vorher schon angetönt habe, führte das möglicherweise dazu, dass ich Spitzensportler wurde.

Wie meinen Sie das?
Vielleicht war das Skifahren eine Flucht, vielleicht wollte ich so die Trauer überspielen und mich spüren, indem ich an meine körperlichen Grenzen ging.

Sie waren offenbar ein Naturtalent. Schon Ihr erstes Rennen als Fünfjähriger haben Sie gewonnen.
Das war das Schülerrennen hier in Schönried. Meine Mutter sagte mir: «Du musst einfach zwischen den Toren durchfahren.» Das habe ich dann tatsächlich gemacht, ich bin mittendurch beziehungsweise unter den Toren durchgefahren und habe gewonnen. Erst kürzlich wurde ich hier in Schönried mal wieder darauf angesprochen.

Träumten Sie schon als Kind von einer Karriere als Skirennfahrer?
Nein, ich wollte wie mein Vater Bauer werden. Am schönsten war jeweils die Alpzeit, die 14 Wochen dauerte. Ich blieb jeweils die ganze Zeit oben, half beim Melken und Misten. Dieses einfache Leben in der Natur gefiel mir. Später machte ich eine Lehre als Landmaschinen-Mechaniker. Doch als ich im Skirennsport immer besser wurde, hatte sich das Thema Bauernhof irgendwann erledigt.

Was beim Blick auf Ihre Karriere auffällt: Sie waren eher ein Spätzünder.
Das stimmt, trotzdem habe ich nie an mir gezweifelt. Auch weil es Jahr für Jahr aufwärtsging und ich der Weltspitze immer näher kam. Wenn auch eher langsam.

Die Grossanlässe und MvG – das passte zuerst aber nicht so richtig.
Sie meinen wohl Lillehammer 1994. Damals war ich wirklich in Form, doch leider hatte ich ausgerechnet an den Olympischen Spielen einen meiner wenigen Stürze. Daran hatte ich schon ein bisschen zu knabbern. Heute glaube ich aber, dass ich ohne diese Erfahrung und das Lernen, mit Niederlagen umzugehen, später nicht zweimal Weltmeister geworden wäre.

Was ebenfalls erstaunlich ist: Sie sind einer der ganz wenigen Skirennfahrer, der sich nie das Kreuzband gerissen hat. Zufall oder nicht?
Ich hatte wohl gute körperliche Voraussetzungen und kannte mein Limit sehr gut. Darum bin ich auch sehr selten ausgefallen.

Man könnte jetzt aber auch sagen: Sie sind so selten ausgefallen, weil Sie nicht komplett an Ihr Limit gingen.
Das glaube ich nicht. Du musst mit dem Wasser kochen, das du zur Verfügung hast. Und bei mir war das meine filigrane Technik. Deshalb hatte ich während meiner ganzen Karriere nie einen richtig schlimmen Sturz.

Einspruch, was war mit Keystone 1994?
Stimmt, den habe ich vergessen. Wir trainierten dort Slalom. Es gab nur ein weisses Band und keine Netze. Da hat es mich geschmissen, und ich bin mitten in den Bäumen und Steinen gelandet. Der damalige Trainer Fritz Züger sagte danach zu mir: «Mike, du hättest tot sein können.»

Schlagzeilen gab es auch 1997 in Val d’Isère. Damals wurde Sieger Hermann Maier disqualifiziert, weil er sich zu früh die Ski ausgezogen hatte. Sie erbten den Sieg und zogen dadurch den Zorn von halb Österreich auf sich.
Damals war schon einiges los, und ich erhielt anonyme Briefe mit Drohungen. Für mich persönlich war das nie ein Problem, als es aber um meine Familie ging, war das zu viel. Einmal wurde mir sogar mit Kindesentführung gedroht. Da schalteten wir schon die Polizei ein.

Sie teilten während Ihrer Karriere oft das Zimmer mit Paul Accola. Auf den ersten Blick eine spezielle Konstellation.
Wir haben uns immer gut verstanden. Er hätte mir sein letztes Hemd gegeben. Aber ja, wir waren grundverschieden. Während ich Perfektionist war, war er eher Minimalist. Oft kam es vor, dass ich frühstücken ging und wenn ich zurückkam, er noch immer im Bett lag. Päuli war aber ein sehr guter Wetterprophet. Als wir einmal im Wallis im Sommertraining waren, sagte er nachmittags: «Ich fahre heute schon heim, weil morgen wird das wegen des Wetters nichts mit Training.» Und prompt konnten wir alle, die blieben, am nächsten Tag nicht trainieren.

Haben Sie damals einander auch Scherze gespielt?
Das kam schon mal vor. Früher waren wir im November immer in Colorado im Training. Wir hatten dort ein Häuschen und kochten selber. Päuli, Urs Kälin, Steve Locher, Marco Hangl und ich. Einmal schickten wir Urs zum Einkaufen. Er kam mit dem billigsten Fleisch zurück. Das konnte man nicht essen, deshalb liessen wir es die ganze Zeit im Kühlschrank liegen. Als wir dann in die Schweiz zurückkehrten, nahmen wir das gammelige Fleisch und steckten es in den Koffer von Urs. Ich möchte gar nicht wissen, wie das beim Öffnen des Koffers zu Hause gestunken hat.

Apropos Essen: Wer an MvG denkt, der denkt auch an den legendären Käse-Dress. Mochten Sie ihn?
Sehr, weil er cool, authentisch und typisch schweizerisch war. Ich habe heute noch einen Anzug. Und Sie glauben ja nicht, wie oft ich Anfragen bekomme.

Was für Anfragen?
Viele wollen ihn für Polterabende oder Ähnliches ausleihen. Erst kürzlich gab ich ihn einem Töfflibueb von hier, der damit an einer Veranstaltung in Österreich teilnahm.

1997 und 2001 wurden Sie Riesenslalom-Weltmeister. Dachten Sie in solchen Momenten des Glücks auch an Ihre verstorbenen Eltern?
Ja, sie beide hatten so viel für den Schneesport und den Tourismus in unserer Region gemacht und waren früher beide auch Skilehrer. Sie wären bestimmt stolz gewesen, wenn sie in diesen Momenten dabei gewesen wären. Zum Glück war aber oft meine Frau Anna anwesend.

Welchen Anteil hatte Anna an Ihren Erfolgen?
Einen sehr grossen. Damals gab es ja noch keine Mentalcoaches. Diese Rolle übernahm sie für mich. Zum Glück kamen wir schon 1991 zusammen, bevor ich meine grossen Erfolge hatte und der ganze Rummel losging. Danach war sie immer an meiner Seite. Das war für sie nicht immer ganz einfach. Während den Wintern war sie oft alleinerziehende Mutter, weil ich ja dauernd unterwegs war.

2000 hätte aber alles vorbei sein können.
Anna war damals im sechsten Monat schwanger. Es war kurz vor einer Routine-Untersuchung, als sie ein aussergewöhnliches Empfinden in der Bauchgegend hatte. Dann wurde festgestellt, dass das Kind tot ist. Man muss dann ja trotzdem die Geburt auf natürlichem Wege einleiten, weil ein Kaiserschnitt viel gefährlicher gewesen wäre. Während dieser natürlichen Geburt kam es zu grossen Komplikationen, und Anna verlor sehr viel Blut. Irgendwann sagten mir die Ärzte: «Wir können nichts mehr für Ihre Frau machen.» Sie hatten Anna schon aufgegeben. In diesem Moment kam bei mir natürlich der Tod meiner Eltern wieder hoch.

Es kam zum Glück anders: Ihre Frau überlebte, aber das Baby war tot.
Das war für unsere Beziehung eine grosse Herausforderung. Ich als Mann war an einem anderen Punkt als Anna, denn ich war vor allem dankbar darüber, dass meine Frau überlebt hatte. Natürlich hat mich auch der Tod unseres Babys beschäftigt, für Anna war es aber viel schwieriger, weil sie es ja sechs Monate lang in ihrem Bauch getragen hatte. Dadurch hatte sie manchmal das Gefühl, ich leide gar nicht richtig mit ihr mit.

Sie haben Ihr Baby dann beerdigt. Wie wichtig war das für Sie?
Sehr wichtig, auch wenn das rechtlich damals gar nicht möglich gewesen wäre. Es klingt unglaublich hart, aber damals gab es die Regel, dass verstorbene Babys, die kleiner als 30 Zentimeter sind, im Operations-Abfall landen. Man muss sich das mal vorstellen: Die wollten unser eigenes Baby in den Abfall werfen! Unvorstellbar! Anna nahm damals mit unserem Pfarrer Kontakt auf und fragte, ob wir Joan nicht beerdigen dürfen. Zum Glück durften wir. Er erhielt dann auf dem Friedhof ein Grab, und in unserem Garten pflanzten wir ein rotes Bäumchen.

Sie sind mittlerweile 54 Jahre alt. Wie sieht Ihr Leben heute aus?
Schön, ich bin zufrieden und kann mich über zu wenig Arbeit nicht beklagen. Ich arbeite für Gstaad Saanenland Tourismus, für meinen ehemaligen Ausrüster Fischer, biete im Winter Ski-Tage für Firmen oder Privatpersonen an, bin Präsident der Grüter-Stiftung von Swiss-Ski, die Nachwuchstalente unterstützt, und ich jodle seit vier Jahren.

Warum Jodeln?
Weil es mir gefällt und es etwas fürs Gemüt ist. Anna und ich singen im Jodlerchörli Abeglanz Gstaad und aushilfsweise in der Jodlergruppe Schwenden. Das macht richtig Spass.

Etwas haben Sie noch vergessen: Sie wären 2022 beinahe Politiker geworden.
(Lacht.) Stimmt, ich wurde schon früher immer mal wieder angefragt, hatte aber immer Nein gesagt. Beim letzten Mal, als es darum ging, für die SVP für die Wahlen des Grossrats des Kantons Bern zu kandidieren, sagte ich zu und liess mich aufstellen. Ich bekam dann doch relativ viele Stimmen, wenn man bedenkt, dass ich keinen Wahlkampf bestritten hatte.

Mike von Grünigen, der Politiker: Es fällt einem schwer, sich das vorzustellen.
Naja, ich wäre sicherlich nicht der Vollblutpolitiker, aber Anna sagt immer, ich wäre der perfekte Politiker.

Warum?
Weil ich von hitzigen Sitzungen nach Hause käme und trotzdem gleich einschlafen könnte.

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