Auf einen Blick
Hinweis: Dieser Artikel erschien erstmals im September 2023.
Herr Nietlispach, was haben Sie am 13. Juli 2023 gemacht?
Franz Nietlispach: Ich ging mit meiner Frau Doris fein essen. Und ich bekam den ganzen Tag viele Nachrichten meiner Geschwister, die wissen wollten, ob es mir gut geht. Ich konnte alle beruhigen. Ich habe an diesem Tag eher gefeiert als getrauert.
An jenem Tag jährte sich Ihr tragischer Unfall bereits zum 50. Mal. Welche Erinnerungen haben Sie an den Freitag, den 13. Juli 1973?
Kurz zuvor hatte mir meine Mutter für ein Töffli Geld vorgeschossen. Da ich das zurückzahlen wollte, nahm ich einen Ferienjob an. Ursprünglich wollte ich in einer Kistenfabrik in Merenschwand arbeiten. Da es dort aber so laut war und ich eine Ohrenentzündung hatte, ging ich auf einem Bauernhof in Winterschwil Kirschen pflücken. Pro Kilogramm gab es 50 Rappen.
Was passierte dann?
Es war etwa 6.30 Uhr, und die Leiter war vom Morgentau noch feucht. Als ich beim Hochklettern deswegen leicht ausrutschte, wollte ich mich auf den untersten Ast retten. Dann brach dieser plötzlich, und ich fiel von rund zwei Meter runter. Ich lag rücklings auf dem Boden und hatte das Gefühl, mit meinem Gesäss in einem tiefen Graben zu sitzen, aus dem ich ohne Hilfe nicht mehr herauskommen konnte.
Sie haben später mal gesagt, dass Sie sich Ihre inkomplette Querschnittlähmung wohl nicht beim Sturz zugezogen haben, sondern erst danach.
Das glaube ich bis heute, aber es spielt eigentlich auch gar keine Rolle. Zuerst wollten mich die Brüder meines Kollegen auf einem Brüggli, das man für den Transport der Milchkannen einsetzt, zum Hof fahren. Doch das hat nicht geklappt, weil ich zu starke Schmerzen hatte. Deshalb nahmen sie in einem Auto die Rückbank raus und transportierten mich so. Danach trugen sie mich ins Haus. Irgendwann während dieser Bergung muss wohl die inkomplette Querschnittlähmung entstanden sein.
Wann kamen Sie dann endlich ins Spital?
Danach fuhr mich ein Krankenauto nach Muri, und wir warteten dort stundenlang auf den jungen Guido A. Zäch.
Warum?
Dummerweise fuhren Zäch und seine Sekretärin nach Muri bei Bern und nicht ins aargauische Muri. Damals gab es ja noch keine Handys. Deshalb dauerte es Stunden, bis Zäch endlich da war.
Ahnten Sie da schon, dass ab jetzt Ihr Leben ein anderes sein wird?
Nein, als ich dann mit dem Helikopter nach Basel ins Paraplegikerzentrum geflogen wurde, dachte ich nur: Das wird knapp fürs Grümpi, das am nächsten Tag bei uns stattgefunden hatte und jeweils das Highlight des Jahres war. Damals hat man die Patienten nicht gleich über ihr Schicksal informiert. Zäch sagte nur: «Das bringen wir schon wieder hin.»
Als Kind träumte der einstige Junior des FC Wohlen von einer Karriere als Fussballer. Nach seinem Unfall machte er Karriere als Behindertensportler. Der Aargauer ist Paraplegiker und leidet unter einer inkompletten Querschnittlähmung. Er gewann 14-mal Paralympics-Gold, wurde 20-mal Weltmeister und siegte 5-mal am renommierten Boston-Marathon.
Nebst seiner Karriere machte er sich auch einen Namen als Tüftler und Unternehmer. Noch heute hält er Anteile an MiAmigo. In seiner Garage in Zeiningen AG stellt der 66-Jährige die Elektrovorspänner, die an die Rollstühle angemacht werden, selber her.
Als Kind träumte der einstige Junior des FC Wohlen von einer Karriere als Fussballer. Nach seinem Unfall machte er Karriere als Behindertensportler. Der Aargauer ist Paraplegiker und leidet unter einer inkompletten Querschnittlähmung. Er gewann 14-mal Paralympics-Gold, wurde 20-mal Weltmeister und siegte 5-mal am renommierten Boston-Marathon.
Nebst seiner Karriere machte er sich auch einen Namen als Tüftler und Unternehmer. Noch heute hält er Anteile an MiAmigo. In seiner Garage in Zeiningen AG stellt der 66-Jährige die Elektrovorspänner, die an die Rollstühle angemacht werden, selber her.
Sie lagen danach 13 Wochen lang im Spital auf dem Rücken.
In der Zeit wurde mir immer mehr bewusst, dass nichts mehr so sein würde wie früher. Da ich ja bis heute ein bisschen Gefühl in den Beinen und Füssen habe, dachte ich mir aber zuerst: Das kommt schon wieder.
Was spüren Sie seit dem Unfall noch konkret?
Das zu erklären, ist schwierig. Wenn Sie mir jetzt auf den Fuss stehen würden, dann würde ich das zwar merken, aber es würde mir nicht wehtun.
Stimmt es, dass Sie sich nach diesen 13 Wochen Auf-dem-Rücken-Liegen auf den Rollstuhl freuten?
Ja, auch wenn das für Aussenstehende kaum nachvollziehbar ist. Aber wenn du so lange im Bett lagst, war der Rollstuhl die einzige Möglichkeit, aus dem Bett rauszukommen. Ich habe ihn deshalb sofort akzeptiert.
Das klingt jetzt alles sehr positiv. Hatten Sie im Spital nie eine Krise?
Natürlich gab es die. Ich magerte in der Zeit auch von 70 auf 40 Kilo ab. Doch in den Teenagerjahren hatten ja alle ihre Probleme, so auch ich. Ich habe schnell einmal versucht, stets das Positive zu sehen. So durfte ich zum Beispiel dank einer Sonderbewilligung schon mit 17 Auto fahren.
Ohne Ihren Unfall hätten Sie auch Ihre spätere Frau nie kennengelernt.
Sie arbeitete damals als Krankenschwester im Paraplegikerzentrum in Basel. So lernten wir uns kennen. Ich fragte sie ein halbes Jahr lang, ob sie mit ihr ausgehen würde. Doch sie sagte immer wieder Nein. Doch irgendwann meinte sie: Wenn Barcelona in Basel den Europacup-Final gegen Düsseldorf gewänne, käme sie mit mir erstmals in die Stadt in den Ausgang, weil dann etwas los sei. So fing 1979 alles an.
Wie schwer fiel es Ihnen, als Rollstuhlgänger plötzlich Hilfe annehmen zu müssen?
Damit hatte ich am Anfang schon meine Mühe. Viele wollen mir bis heute helfen, was ja nett gemeint ist. Aber ganz ehrlich: Für mich ist es einfacher, allein den Rollstuhl im Auto zu verstauen als mit Hilfe. Das macht es nur komplizierter. Etwas stört mich übrigens bis heute.
Was?
Ich werde von vielen nicht für voll genommen. Die meinen, meine Frau müsse mich am Morgen jeweils anziehen. Hinzu kommt, dass man als Rollstuhlfahrer bei Gesprächen immer hochschauen muss. Und das Gegenüber schaut auf einen runter. Von oben herab. Das kann schon am Selbstwertgefühl nagen.
Wie sehr half Ihnen der Sport, selbstbewusst zu werden?
Sehr, nach dem Unfall habe ich mich in den Sport geflüchtet. Zuerst als Tischtennisspieler und dann in der Leichtathletik. Zudem habe ich von Beginn weg an den Rollstühlen getüftelt, denn die ersten waren damals noch richtige Möbel.
Der Rest der Geschichte ist bekannt. Sie gewannen 14-mal Gold an Paralympics und wurden 20-mal Weltmeister. Legendär war aber vor allem Ihre Rivalität zu Heinz Frei.
Ganz ehrlich: Ich möchte mit Heinz nichts mehr zu tun haben. Wir sind einfach total unterschiedliche Typen. Er war immer verbissen und ich halt locker. Wenn ich siegte, trank ich danach auch mal ein Bier. Dadurch kam ich in den Medien besser weg. Darunter hat er bestimmt gelitten.
Welchen Anteil hatten Sie an den Streitereien?
Wir kamen einfach nicht miteinander klar, auch Guido A. Zäch hat mal versucht, mit uns zu reden. Ohne Erfolg. Aber ja, als ich 1999 meine Biografie schrieb, dachte ich schon: Wir sind zwei erwachsene Männer, beide über 40 und verhalten uns wie Kleinkinder. Das kann doch nicht sein.
Ihr Sturz war nicht Ihr einziger Schicksalsschlag. Schon mit sieben verloren Sie Ihren Vater.
Ich habe eigentlich keine Erinnerungen mehr an meinen Vater. Deshalb habe ich seinen frühen Tod auch gar nicht richtig mitbekommen und rutschte auch nicht in eine Krise. Aber für meine Mutter musste es sehr schwierig gewesen sein. Von heute auf morgen war sie eine Witwe mit zwölf Kindern. Wie sie das gemeistert hat, war beeindruckend.
Als 1990 Ihr erstes Kind Roman zur Welt kam, hatten Sie ebenfalls grosse Sorge.
Bei der Geburt gab es Komplikationen. Als er zur Welt kam, gab er keinen Ton von sich, und man wusste nicht, wie lange er ohne Sauerstoff war. Deshalb verbrachte er die ersten beiden Wochen auf der Intensivstation, und wir wussten nicht, ob er überlebt. Doch zum Glück kam alles gut.
Hatten Sie Probleme damit, als Roman oder später Tochter Celina die ersten Schritte machten?
Null, ich freute mich. Nur manchmal ärgerte ich mich, wenn ich auf der Couch sass und dann den Rollstuhl suchen musste, weil sie ihn als Spielzeug verwendet hatten. Auch hier sah ich aber das Positive. Ich brauchte zum Beispiel nie einen Buggy, weil ich die Kinder einfach immer auf den Schoss nahm. So mache ich das auch heute mit meinen beiden Enkelkindern.
Wenn Sie jetzt zum Schluss noch einmal auf den 13. Juli 1973 zurückblicken: Ist das ein Unglückstag für Sie?
Nein, eher ein Schicksalstag. Als ich mal in einer Schule einen Vortrag hielt, fragte mich ein Schüler: «Wenn eine Fee dir einen Wunsch erfüllen könnte, möchtest du dann nicht mehr behindert sein?» Ich konnte die Frage nicht mit Ja beantworten.
Warum nicht?
Hätte ich den Unfall nicht gehabt, hätte ich auch auf all die Erfolge, Erlebnisse und schönen Bekanntschaften verzichten müssen. Würde deshalb heute die Fee zu mir kommen und mir diese Frage stellen, würde ich sagen: «Schenk mir lieber einen Ferrari.»