Den 1. Mai 1994 wird Roger Benoit zeit seines Lebens nie mehr vergessen. An jenem Sonntag feierte er 25 Jahre Festanstellung beim Blick und musste den tödlichen Unfall von Ayrton Senna live vor Ort in Imola miterleben.
Heute, 30 Jahre später, arbeitet der 75-jährige Benoit noch immer beim Blick. Hier erzählt er, warum er einst mit dem legendären Senna im Casino war, weshalb er einen Rennoverall in einer Tüte von ihm bekommen hat und welche Erinnerungen er an das schwarze Wochenende von Imola hat.
Lieber Roger, stimmt die Geschichte, dass du deine erste richtige Begegnung mit Ayrton Senna einem Spinnenbiss zu verdanken hast?
Roger Benoit: Ja, das war 1984 im südafrikanischen Kyalami. Ich wurde in der Nacht im Hotelzimmer von einer Spinne in die rechte Backe gebissen. In den Tagen danach musste ich mir alle paar Stunden den Verband wechseln lassen. So auch nach dem Rennen im «Medical Center». Auf einmal schleppten die Ayrton Senna rein und legten ihn neben mich hin.
Warum?
Es war damals sehr heiss, über 35 Grad. Senna hatte sich im zweiten Rennen als Sechster mit drei Runden Rückstand soeben den ersten WM-Punkt seiner Karriere geholt, doch er war völlig kaputt, kreidebleich und kaum ansprechbar. Sie haben dann mit Kühltüchern versucht, ihn wieder aufzupäppeln.
Was dachtest du in dem Moment?
Wenn der nicht schnell seine Fitness verbessert, wird nie etwas aus ihm werden.
Wann hast du realisiert, dass aus ihm doch ein Grosser werden könnte?
Das war bereits 1984 in Monaco. Es regnete damals in Strömen, und Senna fuhr in seinem unterlegenen Toleman auf den zweiten Platz. Möglicherweise hätte er sogar gewonnen, wenn der Rennleiter nach 31 Runden den GP nicht abgebrochen hätte, um so den Franzosen-Sieg von Alain Prost zu retten. Ebenfalls eine Senna-Sternstunde war Estoril 1985.
Was war da los?
Senna fuhr mittlerweile für Lotus und gewann in Portugal seinen ersten GP. An jenem Tag regnete es ebenfalls heftig. Nelson Piquet steuerte gleich dreimal die Boxen an, stieg aus, wechselte seinen völlig durchnässten Overall und fuhr weiter. Und was machte Senna? Der raste allen davon und siegte mit über einer Minute Vorsprung auf Ferrari-Fahrer Michele Alboreto.
Der Rest der Geschichte ist bekannt. Senna wurde dreimal Weltmeister und gilt für viele als einer der besten Fahrer aller Zeiten. Was zeichnete ihn aus deiner Sicht aus?
Sobald er im Auto sass, war er respektlos, brutal und fuhr mit seinem gelben Helm den Gegnern quasi durchs Auto. Wer mit einem Zündhölzchen an seine Emotionalität rankam, konnte ihn zum Explodieren bringen. Doch wenn er wieder ausstieg, war er ganz bescheiden und schüchtern und gefühlt ein anderer Mensch. Ähnlich wie früher Gilles Villeneuve.
Gibt es in der heutigen Formel 1 noch einen solchen Fahrer?
Leider nein, diese Brutalität siehst du nicht mehr. Wer heute die Brechstange auspackt, landet gleich in der Mauer. Der einzige Pilot, der noch ein bisschen so tickt wie Senna, ist Max Verstappen.
Mit seiner Brutalität schaffte sich Senna aber schnell Feinde.
Legendär war vor allem seine Feindschaft zu Prost. Zwei Alphatiere, die sich nicht ausstehen konnten. Als beide 1989 für McLaren fuhren, dachte deren Teamchef Ron Dennis, er könne das handeln. Das war aber eine der grössten Fehleinschätzungen der Formel-1-Geschichte.
1990 sagte Senna vor dem GP in Suzuka offen: «Heute fahre ich Prost ins Auto.» Als Retourkutsche für das Jahr davor.
Heute unvorstellbar. Prost fuhr damals neu für Ferrari. Senna räumte ihn dann auch tatsächlich in der ersten Kurve ab und gewann dadurch seinen zweiten WM-Titel.
Wo standest du in diesem Konflikt, eher auf der Senna- oder der Prost-Seite?
Weder noch, doch das Ganze trieb manchmal seltsame Blüten. Wenn ich zum Beispiel mit Prost geredet hatte und dann zu Senna lief, sagte der nur: «Was willst du jetzt von mir? Du hast ja soeben mit Prost geredet.» In diesem Punkt waren beide Mimosen.
Auch mit seinem Landsmann Nelson Piquet zoffte sich Senna regelmässig. Du hast Piquet eine deiner legendärsten Schlagzeilen zu verdanken.
Irgendwann kam Piquet auf mich zu und sagte: «Ayrton liebt keine Mädchen!» Also schrieb ich das, was heute natürlich undenkbar ist. Da würde man ja im Knast landen. Ein paar Tage später übernahm dann eine brasilianische Zeitung diese Story.
Was passierte danach?
Beim nächsten GP tauchte Senna demonstrativ mit zwei Frauen im Arm im Fahrerlager auf. Und Hallodri Piquet wollte mir einen Tritt in den Allerwertesten geben, weil die Geschichte schon einen Wirbel und Kritik ausgelöst hatte. Man stelle sich vor, es hätte damals schon die sozialen Medien gegeben …
Apropos Frauen. Deine Ehe hielt exakt ein Jahr und vier Tage und damit einen Tag länger als die von Senna. Welches war die glücklichere?
Sagen wir es mal so: Ich habe meine Frau nicht mit einem Mechaniker im Bett gefunden. Aber Senna war damals unbekannt und erst 20 Jahre alt. Trotzdem erschien die Story danach in brasilianischen Klatschblättern.
Diese Geschichten, die du hier erzählst, sind heute alle unvorstellbar. Bedauerst du das?
Ja, aber früher war es so. Wenn ich damals Senna interviewen wollte, ging ich einfach zu ihm hin und fragte, ob er Zeit habe. Einmal setzten wir uns in Estoril bei einer Tankstelle auf den Boden und redeten lange miteinander. Senna war übrigens ein sehr guter Zuhörer.
1987 hast du mit ihm mal ausführlich über den Tod geredet. Weisst du noch, was er dir geantwortet hat?
Nein, sag es mir.
«Ich hoffe, er kommt zur richtigen Zeit, also noch lange nicht – und vor allem ohne Schmerzen.»
Mit ihm konnte man wirklich über alles reden, nicht nur über Banalitäten. Und wenn er etwas gesagt hatte, stand er danach dazu, auch wenn es ihm Ärger eingebrockt hatte.
Senna war ja streng gläubig.
Einmal hat er mir verraten, dass er im Cockpit oft zu Gott betet, weil er im Auto ja viel Zeit hätte.
Er kennt die Formel 1 wie kein anderer Journalist: Blick-Reporter-Legende Roger Benoit. Seit 1967 schreibt er für Blick, ab 1970 vorwiegend über die Formel 1. Mittlerweile hat er von über 808 Rennen berichtet, verfasste rund 90 GP-Berichte aus Zürich und war bei rund 1000 Testtagen dabei.
In unserer Serie «Auf eine Zigarre mit Blick-Benoit» blickt der heute 75-Jährige auf über ein halbes Jahrhundert Formel-1-Erfahrung zurück. Frauen, Partys, Streiche – was der leidenschaftliche Zigarrenraucher in dieser Zeit erlebt hat, ist heute unvorstellbar. Hier erzählt er nun regelmässig seine besten Anekdoten. Und zwar so, wie man ihn kennt (und fürchtet): direkt, ehrlich, pointiert.
Er kennt die Formel 1 wie kein anderer Journalist: Blick-Reporter-Legende Roger Benoit. Seit 1967 schreibt er für Blick, ab 1970 vorwiegend über die Formel 1. Mittlerweile hat er von über 808 Rennen berichtet, verfasste rund 90 GP-Berichte aus Zürich und war bei rund 1000 Testtagen dabei.
In unserer Serie «Auf eine Zigarre mit Blick-Benoit» blickt der heute 75-Jährige auf über ein halbes Jahrhundert Formel-1-Erfahrung zurück. Frauen, Partys, Streiche – was der leidenschaftliche Zigarrenraucher in dieser Zeit erlebt hat, ist heute unvorstellbar. Hier erzählt er nun regelmässig seine besten Anekdoten. Und zwar so, wie man ihn kennt (und fürchtet): direkt, ehrlich, pointiert.
Ebenfalls rückblickend unglaublich. Du warst mal mit Senna mitten in der Nacht im Casino.
Das war in Monaco 1993. Ich traf ihn gegen Mitternacht im legendären Hotel Loews. Er fragte mich, was ich mache. «Ich gehe jetzt Blackjack spielen», antwortete ich ihm. Also kam er mit. Doch weil Blackjack für einen Laien ein bisschen kompliziert ist, spielten wir Roulette. Ich sagte ihm, er solle auf die 5, 7, 9, 11 und 14 je umgerechnet 20 Franken setzen. Prompt kam die 9, und er bekam mit dem Schieber die vielen Jetons zugeschoben. Dann fragte er: «Und jetzt?» Ich erklärte ihm, dass wir nochmals die gleichen Zahlen nehmen. Da kam die 14, und er erhielt wieder einen Haufen Jetons. Als er dann erneut fragte «und jetzt?», antwortete ich ihm: «Jetzt kommt der wichtigste Punkt: Nun musst du gehen.» Da hat er nur noch gestaunt und gelacht. Und es später in seinen Memoiren erzählt.
Wenn wir schon thematisch in Monte Carlo sind: Das war wohl Sennas Lieblingsstrecke, oder?
Definitiv, in Monte Carlo triumphierte er sechsmal und auch 1988 hätte er gewonnen, wenn er nach der Portier-Kurve mit 30 Sekunden Vorsprung nicht in die Leitplanken geknallt wäre. Danach verschwand er für zwei Tage in seinem nahe gelegenen Appartement.
In deiner Privatsammlung hast du auch einen Rennoverall von Senna. Wie bist du an den gekommen?
Irgendwann fragte ich ihn, ob er mir mal einen schenken könnte. In Adelaide 1992 überreichte er mir dann seinen Rennoverall und sagte bloss: «Steck ihn schnell in den Müllsack und hau ab, denn Ron Dennis kommt gleich um die Ecke. Wenn er das mitkriegt, gibts Ärger.» Ich habe ihm übrigens auch mal einen Gefallen getan.
Welchen?
Eines Tages kam er auf mich zu und sagte: «In der Schweiz gibt es ja sehr viele renommierte Uhrengeschäfte. Ich habe hier eine Patek Philippe, die man dringend reparieren muss. Könntest du das bitte für mich organisieren?» Dann überreichte er mir die Uhr, die in einem desolaten Zustand war. Danach ging ich an der Zürcher Bahnhofstrasse zu Bucherer. Die schauten mich an, als ob ich ein Clochard sei, weil die Uhr so dreckig war. Als ich ihnen erklärte, dass die Uhr von Senna sei, erklärten sie sich aber dazu bereit, sie zu restaurieren. Zwei Wochen später konnte ich sie wieder abholen und danach Senna überreichen. Er freute sich damals sehr, weil ihm die Uhr offenbar viel bedeutet hat.
Vor 30 Jahren, am 1. Mai 1994, endete das Leben von Ayrton Senna jäh. Welche Erinnerungen hast du an die schwarzen Tage von Imola?
Senna fuhr damals neu für Williams und war gehörig unter Druck, weil er bei den beiden ersten Saisonrennen ausgeschieden war und Michael Schumacher zweimal gewonnen hatte. Als am Samstag im freien Training Roland Ratzenberger tödlich verunglückt war, hat das Senna sehr stark mitgenommen. Am Abend sagte er deshalb zum Rennarzt Sid Watkins: «Ich glaube, ich höre auf.» Doch dieser sagte nur, er solle sich das nochmals überlegen. Am Sonntagmorgen kam es dann noch zu einer speziellen Versöhnung.
Zu welcher?
Im Williams-Motorhome trafen sich die Dauerrivalen Senna und Prost zum Gespräch, möglicherweise auf Initiative von Watkins. Nach etwa einer Stunde kamen beide wieder raus und es sah so aus, als ob die zwei geweint hätten. Der Legende nach soll während des Gesprächs Prost Senna davon überzeugt haben, weiterzufahren.
Wenige Stunden später war Senna tot. Wann hast du realisiert, dass etwas ganz Schlimmes passiert sein muss?
Relativ schnell, weil es keine Informationen gab, was immer ein schlechtes Zeichen ist. Als abends dann die Meldung kam, dass er verstorben sei, habe ich im Blick so viel geschrieben, wie noch nie an einem Tag: sieben Seiten.
Die Welt verlor damals eine Ikone und in Imola spielten sich seltsame Szenen ab.
Ich weiss, worauf du anspielst. Noch am selben Abend gingen Fans – und auch eine Journalistin – zur Unfallstelle und kratzten dort Sennas Blut von den Steinen. Das war zwar geschmacklos, zeigt aber, wie sehr er verehrt wurde. Ich erinnere mich auch noch an die Ungarn-Premiere 1986 hinter dem Eisernen Vorhang, als viele DDR-Bürger sich vor den Brasilianern auf den Asphalt knieten und ihn anhimmelten.
Dank der beiden tödlichen Unfälle 1994 wurde danach die Formel 1 sicherer.
Das ist so, auch dank FIA-Präsident Max Mosley. Mir sagte vor ein paar Jahren eine Formel-1-Legende: «Heute ist es nahezu unmöglich, dich in einem Formel-1-Auto umzubringen.» Würde heute so ein Unfall wie der von Senna passieren, hätte der Fahrer danach nicht einen Kratzer.
Was denkst du: Wie sähe heute das Leben von Senna aus?
Ich könnte mir vorstellen, dass er irgendwo auf einer Farm mit Tieren leben und mit seinen Stiftungen arme Kinder unterstützen würde, was er ja schon zeit seines Lebens gemacht hatte. Und ich glaube, er hätte heute noch Millionen von Fans, wie die 1981 verstorbene Ferrari-Legende Gilles Villeneuve.
Und wie würde ihm die Formel 1 im Jahr 2024 gefallen?
Nicht so sehr, denn er würde nicht mehr in die heutige Zeit passen. Das ganze Drumherum wäre ihm zu viel, und die aktuelle Formel 1 und ihre Rennen, die mittlerweile leider oft an Computerspiele erinnern, wären nichts mehr für ihn. Zudem war er nie ein Fahrer, der in der Formel 1 Politik machte – wie es nach Alain Prost noch mehrere Piloten versuchten.