Ski-Legende Russi wurde 75
Was war dein grösster Seich, Bernhard?

Ski-Legende Bernhard Russi wurde am Sonntag 75 – und schaut mit Tipp-Gegnerin Annetta (10) auf sein bewegtes Leben zurück.
Publiziert: 20.08.2023 um 12:48 Uhr
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Aktualisiert: 28.08.2023 um 07:55 Uhr
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Lockerer Schwatz bei einer feinen Crèmeschnitte: Annetta Trepp und Bernhard Russi haben sich zum grossen Geburtstagsinterview in Andermatt getroffen.
Foto: Sven Thomann

Sie haben sich im Februar während der alpinen Ski-WM in Courchevel/Méribel ein spannendes Tipp-Duell geliefert: Jetzt stehen sich SonntagsBlick-Ski-Experte Bernhard Russi und die Fünftklässlerin Annetta Trepp wieder gegenüber. Diesmal im grossen Interview zu Ehren von Russis 75. Geburtstag, in dem es nach Annettas 16:20-Niederlage natürlich nicht nur um eine Tipp-Revanche geht. Der 10-jährige Ski-Fan aus Maienfeld GR quetscht auch die eine oder andere schöne Anekdote aus der Ski-Legende heraus. 

Annetta: Lieber Bernhard, alles Gute zu deinem 75. Geburtstag! In all den Jahren kann man ja nicht immer nur brav gewesen sein. Was war der grösste Seich, den du je gemacht hast?
Bernhard Russi:
(Überlegt.) Vielen Dank für die Glückwünsche. Mir kommt da eine kleine Geschichte aus meiner Kindheit in den Sinn: Ich bin in Andermatt beim Bahnhof aufgewachsen. Wir waren drei Buben in der Familie, und dieser Bahnhof war wie ein grosser Spielplatz für uns. Wir wussten genau, wie die Dinge funktionierten. Immer gegen Abend fuhr ein Zug ein. Da war vorne der Lokomotivführer und hinten der Kondukteur, zu dessen Aufgaben es auch gehörte, beim Halt die Weichen zu stellen. Also ging ich als fünfjähriger Knirps in genau jenem Moment zum Wagen und drückte den Knopf, der dem Lokomotivführer signalisierte, dass er weiterfahren könne.

Hat der Streich geklappt?
Ja, die Bahn rollte davon. Die Weichen waren bereits gestellt, aber die Leute noch nicht eingestiegen und der Kondukteur auch nicht an Bord. (Schmunzelt.) Der Zug fuhr dann bis nach Hospental, wo das Fehlen des Kondukteurs und der Fahrgäste ziemlich schnell bemerkt wurde. Und ich kann verraten: Das hatte noch ein Nachspiel für mich.

Wenn wir schon dabei sind: Bei wem müsstest du dich noch entschuldigen?
Bei allen, zu denen ich nicht gut war. Bei allen, die enttäuscht von mir sind oder waren. Aber herauspicken kann ich gerade niemanden. Wir können es ja so machen: Alle, die das Gefühl haben, ich müsste mich noch bei ihnen entschuldigen, sollen sich doch bitte melden.

Das würde Bernhard Russi heute anders machen
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Im Interview mit Annetta (10):Das würde Bernhard Russi heute anders machen

Was war der schönste Tag in deinem Leben?
Ich wusste, dass diese Frage kommt. Doch wenn ich einen Tag wähle, heisst das, dass die anderen weniger gut waren. Also würde ich das gerne gruppieren.

Klar, nur zu.
Mit vom Schönsten war die Geburt meiner Kinder Ian und Jenny. Ein Wunder – es gibt nichts Schöneres. Dann wäre da natürlich auch noch die sportliche Perspektive: Ich durfte ein paar Siege feiern, die wahnsinnig wichtig waren. Und da kommt mir als Erstes der Jugendskimeister in den Sinn.

Warum?
Jugendskimeister bist du, wenn du Abfahrt, Slalom, Springen und Langlauf in der Kombination gewinnst. Das Schöne daran war, dass die ganze Schule, von der Primar- bis zur Sekundarschule, mitgemacht hatte. Am Ende gab es eine riesige Party im Hotel Schlüssel mit Wienerli und Brot und was zu trinken. Und ganz wichtig: Der Jugendskimeister durfte den Tanz eröffnen. Die Tradition war, dass er sich dann ein Mädchen zum Tanzen aussuchen durfte. Also habe ich das dann auch gemacht – und letztlich den ganzen Abend mit ihr verbracht. Am Ende brachte ich meinen ganzen Mut auf und fragte sie, ob sie meine Freundin sein wolle. Dann meinte sie: «Ja, aber ich habe einfach ein Problem. Ich habe schon zwei Freunde.»

Wie hast du reagiert?
Ich fragte sie, wer denn die anderen Burschen seien? Sie meinte: «Der Pius.» Und ich so: «Nein, aber nicht der Pius!» Und sie wieder: Doch, das sei der Klügste. Also fragte ich nach dem Zweiten. Und sie meinte: «Der Linus.» Und ich wieder: «Aber nicht auch noch der Linus!» Und sie wiederum: Doch, das sei der Schönste. Also fragte ich, warum sie denn mich nehmen wollte. Worauf sie meinte, ich sei nun eben der beste Skifahrer. Also fragte ich, was wir denn im Frühling oder Sommer machen würden, wenn die Skisaison vorbei wäre. Dann meinte sie: «Das sehen wir dann.» (Lacht.) Aber …

... ja?
Um die schönsten Sport-Tage in meinem Leben noch zu vervollständigen: Da gehören der Olympiasieg und der erste Weltmeistertitel – mein emotionalster Erfolg – sicher auch dazu.

Was ist der beste Rat, den du je bekommen hast?
Das war beim ersten Weltmeistertitel 1970 in Gröden. Mein Vater, der höchst selten an einem Rennen war, stand damals im Zielraum. Da war ein riesiges Tohuwabohu, alle waren überglücklich. Dann kam mein Vater und sagte mir, dass wir zusammen abendessen gehen würden. Ich entgegnete, dass ich noch zuerst zur Siegerehrung gehen musste. Da sagte er: «Ja, aber denk daran: Du musst auch wieder vom Treppchen heruntersteigen, sonst können wir nachher nicht gemeinsam zum Znacht.» Im Prinzip meinte er damit: Es ist schön, wenn man zuoberst auf dem Podest steht. Aber es wird nicht immer so sein.

Was war die beste Entscheidung deines Lebens?
Schwierig. Aber ich kann dir vielleicht eine lustige Antwort liefern: Ich habe mich entschieden, nicht Pfarrer zu werden. 

War denn das ein Thema?
Ja. Ich war Messdiener und Chorsänger. Und während der Schulferien war ich trotz Sommerjob jeden Tag dreimal in der Kirche. Um 6 Uhr, um 7.30 Uhr und noch einmal um 17.30 Uhr bei der Abendandacht. Das war nicht abnormal zu jener Zeit. Andermatt war sehr katholisch – und ich bin auch so aufgewachsen.

Worauf bist du besonders stolz?
Stolz gibt es in meinem Gefühlsleben nicht. Ich möchte das gerne tauschen mit «glücklich sein». Ich hatte nie das Gefühl gehabt, ich sei der Beste. Extrem zufrieden bin ich im Rückblick damit, dass ich trotz allem meine Berufslehre als Hochbauzeichner abgeschlossen habe. Das war nebst dem Sport ein Spagat. Doch die Ausbildung hat es mir auch ermöglicht, in Andermatt ein schönes Häuschen zu bauen, in dem meine Frau Mari und ich jetzt wohnen.

Du wohnst sehr schön hier in Andermatt. Was machst du jetzt eigentlich den ganzen Tag, Bernhard?
Nun, ich bin ja ein sogenannter Pensionär – aber meistens steht etwas auf meinem Programm. Ich mache oft, wonach mir gerade ist. Heute Morgen war ich in der Reuss, weil ich Lust aufs Wasser hatte. Und: Ich mache mir jeweils Sechs-Wochen-Pläne. Das heisst, dass ich immer erst sechs Wochen vor einem Event wirklich zusage.

Du bist übrigens gleich alt wie meine «Nona». Sie unternimmt sehr viel mit uns – was machst du am liebsten mit deinen drei Enkeln?
Am meisten freut es mich, wenn sie ein Lachen im Gesicht haben. Im Winter bin ich eine Art Ersatz-Skicoach. Richtig den Plausch habe ich, wenn wir auf der Piste springen gehen. Im Sommer ist es eher etwas am Wasser. 

Bei mir ist es so, dass ich neben dem Skiclub Beverin auch noch ins Kunstturnen gehe. Hast du auch noch andere Leidenschaften neben dem Skisport?
Zunächst einmal finde ich es super, dass du auch noch etwas anderes machst. Ich bin der Meinung, dass die besten Skifahrer polysportiv sind. Bei mir ist es so: In Andermatt bist du im Winter grundsätzlich Skifahrer und im Sommer Fussballer. Es gibt hier zwar keinen Tschuttiplatz, aber man hat einfach dort gespielt, wo zuerst gemäht wurde. Es gab auch Zeiten, da habe ich mich stark für die Leichtathletik interessiert. Wir haben eine eigene Stabhochsprung-Anlage und ein paar Hürden gebaut. Und ich mag auch Bergsteigen und Golfen sehr.

Wer ist dein Lieblingsskifahrer?
Im Moment ganz sicher Marco Odermatt. Ich habe zu meinen Zeiten Grössen wie Jean-Claude Killy, Franz Klammer oder Alberto Tomba erlebt. Ich glaube, man darf «Odi» ruhig auch in diese Gruppe stecken. Er ist ein genialer Typ, so natürlich, so geerdet. Und auch er ist polysportiv. Hast du den Ski-Salto von ihm gesehen? Sensationell!

Apropos: Hast du bereits begonnen, dich mental auf unser nächstes Tipp-Duell vorzubereiten?
Ah, du willst eine Revanche! (Lacht.) Das wäre dann also bei der nächsten WM. Klar, jetzt weiss ich, worauf ich mich einstellen muss. Mental bin ich bereit. Aber ich habe das Gefühl, dass du noch grausam zulegen kannst. Du hast dich gegen Ende der WM wohl zu stark von den Emotionen leiten lassen. Mein Tipp: Man muss teilweise ein wenig hart bleiben. Und manchmal tut es gut, gegen das eigene Herz zu wetten. Das mache ich oft. Sei das im Lotto oder wenn ich gegen meine Lieblingsmannschaft im Fussball tippe.

Wen würdest du gerne einmal noch treffen oder kennenlernen?
Es gibt da einen Sportler, der für mich ein unglaublicher Typ ist: Und das ist Tiger Woods, der wohl beste Golfspieler, den es je gegeben hat. Doch ich würde ihn nicht deshalb gerne treffen, sondern, weil er ein Mensch mit unfassbar vielen Höhen und Tiefen ist. Er ist für mich der Inbegriff des Gewinnens und Verlierens. Es wäre cool, mit ihm zusammen eine Flasche Wein zu trinken. Denn sehr wahrscheinlich wird auch seine Zunge nach dem ersten Glas ein wenig lebendiger. Das ist bei allen so.

Welchen Traum hast du noch im Leben?
Da gibt es viele! Ich habe mir vor Jahren eine sogenannte Bucket List gemacht mit den zehn wichtigsten Dingen, die ich gerne noch machen würde. Da sind teilweise wahre Träume drauf – und ich glaube nicht, dass wirklich alle in Erfüllung gehen müssen. Sonst hätte ich ja keine Träume mehr. Doch einer davon ist, einmal noch die Mitternachtssonne zu sehen. Das wäre mit einem Flug in den Norden relativ einfach zu realisieren. Aber ich schiebe es bewusst noch ein wenig heraus.

Was würdest du anders machen in deinem Leben?
Nichts. Rein gar nichts. Denn wenn du dich in deinem Leben für etwas entscheidest, ist das in diesem Moment ja genau das Richtige. Warum sollte ich 20, 30, 40 oder 50 Jahre später noch einmal darauf zurückgehen und mich fragen, ob ich das anders hätte machen sollen? Das war ja auch eine ganz andere Zeit, man kann das gar nicht mehr werten. Ich verspüre in diesem Zusammenhang auch eine grosse Dankbarkeit. Ich hatte bis jetzt ein wunderschönes Leben. Ich würde nichts daran ändern, auch die schlechten Dinge nicht – denn auch die sind wichtig.

Zum Abschluss: Wie möchtest du den Leuten in Erinnerung bleiben?
Ich versuche, mich nicht zu wichtig zu nehmen. Ich versuche, geerdet zu bleiben. Und ich versuche, mehr zu geben, als zu nehmen. Ich sage bewusst, dass ich es versuche. Das ist nicht immer so einfach, aber es ist wirklich meine Absicht. Und wenn meine Kinder und die Enkel mal sagen, ich sei der beste Vater und Grossvater gewesen, dann hat sich für mich alles gelohnt.

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