Es ist ein herrlich warmer Sonntag, nicht zu heiss und nicht zu kalt. Draussen scheint die Sonne. Im Haus von Laura Jörin in Aarwangen BE wird gelacht, die Kinder spielen, der Hund möchte gestreichelt werden. Ihre Eltern Sandra und Andreas sind da, auch die Schwestern Lisa und Jana sind gekommen. Die ganze Familie trifft sich. Die ganze Familie? Nein. Gino Mäder fehlt. Erst 26-jährig, starb der Radprofi am 16. Juni 2023 nach einem Unfall am Albulapass. «Kürzlich wurde ich für einen Steckbrief gefragt, wie viele Kinder ich hätte. Ganz ehrlich: Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Habe ich drei oder vier? Gino ist ja nicht mehr da. Es ist ein komisches Gefühl», erzählt Andreas.
Heute fällt der Startschuss zur 87. Tour de Suisse mit einem Zeitfahren in Vaduz (FL). Es ist das Rennen, bei dem Gino Mäder vor einem Jahr sein Leben liess. Klar, dass dabei Erinnerungen an die Tragödie hochkommen. Und auch die Traurigkeit. Gleichzeitig sollen die vielen, schönen Momente in Ginos Leben nicht vergessen werden. Genau darum öffnen die Mäders ihr Familienalbum. Sie reden über Fotos, die Fröhlichkeit versprühen – damals, aber auch heute. Nein, heute ist nicht nur Platz für Traurigkeit.
Sandra Mäder (51): «Gino wollte eine Frisur wie Pantani»
Ich war immer ein grosser Fan von Marco Pantani. Und Gino wurde es dadurch auch (lacht). Auf diesem Bild ist er etwa ein Jahr alt, das gelbe Käppli ist von Pantanis früherem Team Mercatone Uno. Gino hatte auch ein T-Shirt mit einem Piraten drauf – Pantani wurde ja «Il Pirata» genannt. Wir hatten es selbst gemalt, weil es kein Merchandising in seiner Grösse gab. Gino war schon als ganz kleines Kind unser kleiner Pirat.
Ich erinnere mich gerne an einen Coiffeurbesuch mit Gino. Er war vier Jahre alt, nahm ein Foto von Pantani mit und sagte der Coiffeuse: «So eine Frisur will ich auch haben!» Das Problem: Pantani hatte gar keine Frisur, sondern eine Glatze (lacht). Und Gino schöne, lange, blonde Locken. Die Coiffeuse antwortete: «Nein, Gino. Ich schneide dir keine Glatze.» Und was hat er gemacht? Er ist aufgestanden und hat gesagt, dass wir woanders die Haare schneiden gehen. Ich war perplex. Letztlich haben wir ihm eine Kurzhaarfrisur, aber keine Glatze erlaubt – das war ein guter Kompromiss.
Als Gino zur Welt kam, hatte er zwei Schwestern: Laura und Jana. Er hat bald einmal mit ihren Sachen gespielt – bei uns gab es nie spezifisches Spielzeug für Mädchen oder Buben. Lego, Holzeisenbahnen, viele Dinge halt. Gino war auch sehr oft draussen. In Wiedlisbach, wo wir zu Hause waren, gab es mehrere Wohnblöcke und in der Mitte einen Spielplatz – alle Kinder haben sich dort getroffen. Dort hatte Gino auch sein Sändelizüüg. Oft kam er nur rasch mittags nach Hause, ass, machte seinen Mittagsschlaf und ging wieder spielen.
Gino war immer sehr lieb, wir hatten nie grosse Probleme. Streitereien ging er immer aus dem Weg, auch in der Schule. Ein Bub plagte ihn allerdings ständig – heute würde man wohl von Mobbing sprechen. Er biss ihn immer wieder. Eines Tages schupfte Gino ihn zurück, er fiel über eine Bank und schlug sich einen Zahn aus. Für Gino war das sehr schlimm, danach war Ruhe – von den Eltern haben wir nie etwas gehört.
Bevor Gino richtig mit Velofahren anfing, spielte er Fussball. Zuerst beim FC Wiedlisbach, mit elf durfte er dann zum FC Solothurn, weil er Talent hatte. Dort sagte ihm der Trainer schon bald, er müsse sich zwischen Fussball und Velofahren entscheiden. Er überlegte es sich einige Sekunden und sagte dem Trainer: «Ich komme nicht mehr!» Danach fuhr er mit dem Velo nach Hause und sagte, dass er nicht mehr tschutten werde. Die Entscheidung war gefallen.
Ein Lieblingsspielzeug hatte Gino nicht. Dafür seit seiner Geburt einen Stoff-Leu.
Andreas Mäder (52): «Unsere vier Kinder waren eine Einheit»
Als Gino zur Welt kam, war ich im ersten Moment enttäuscht. Wir hatten mit Laura und Jana schon zwei Mädchen, und ich hatte mir nochmals eines gewünscht. Warum das so war? Keine Ahnung, es war einfach so herzig mit ihnen. Aber natürlich liebte ich Gino genau so sehr.
An dieses Foto erinnere ich mich besonders gerne. Es deutet an, welche Einheit unsere vier Kinder waren. Es passte kein Blatt Papier zwischen sie. In meiner Kindheit war dies anders, mit meinen beiden Schwestern hatte ich permanent Krieg, wir haben uns regelrecht zerstört. Erst in der Pubertät wurde es besser.
Aber zurück zum Bild: Ich hatte mit den Kindern, ohne jeglichen Plan – also so wie fast immer bei unseren kleinen Projekten – eine Holzhütte gebaut. Das war in unserem Garten ideal, weil er an einer Kante steil abfiel. Wir stellten die Hütte also auf Stelzen. Alle halfen mit, wir hatten mächtig viel Spass – auch wenn der Bau letztlich wochenlang dauerte.
Gino und seine Schwestern liebten diese Holzhütte, sie konnten mit einer Strickleiter hoch, und sie machten es sich drinnen richtig gemütlich – mit einem Teppich, Kissen und viel Dekoration. Ein cooler Ort, um zu spielen. Im Sommer übernachteten sie sogar darin.
Ich schätze es rückblickend noch mehr als früher, dass unsere Kinder es so gut miteinander hatten.
Laura Jörin (30): «Der magische Mantel gefiel Gino besonders»
Sommerferien? Das hiess für uns Punta Ala, Toskana. Dort haben wir immer gezeltet. Es war herrlich, wir mögen den Campingplatz auch heute – er ist noch immer fast gleich wie damals. Auf diesem Bild bin ich ganz links, Gino sitzt in seinem Pantani-Gelb neben Vati.
Wir haben in den Ferien Sandburgen gebaut und schön verziert, gingen baden, buddelten uns gegenseitig ein. Ich erinnere mich, wie es an einem der Strandlädeli mega coole Chügeli gab. Und in einigen gab es winzige Bilder von Velofahrern – auch von Pantani. Wir kauften so viele Säckli mit diesen Chügeli, bis Gino ihn hatte – dann strahlte er über beide Ohren. Wir bauten dann Bahnen im Sand und spielten damit.
Jahre später waren Vati, Lisa, Gino und ich mit dem Mountainbike unterwegs, Vati verunfallte und zog sich ziemlich heftige Verletzung am Bein zu. Im Spital sprach niemand Englisch, was die Kommunikation erschwerte. Ich erinnere mich, wie Vati uns anrief und sagte, wir sollten einfach an den Strand spielen gehen. Dann rief er immer wieder an, einmal berichtete er von rosa Elefanten im Zimmer – ich glaube, das war die Wirkung des Schmerzmittels (schmunzelt).
Was Gino und uns besonders gefiel, waren unsere magischen Bademäntel in den Ferien. Warum sie magisch waren? Wir hingen sie vor dem Duschen auf dem Campingplatz draussen auf – und als wir zurückkamen, waren die Taschen auf einmal mit Süssigkeiten gefüllt. Dazu muss man wissen: Wir Kinder haben immer ziemlich viel Theater um das Haarewaschen gemacht. Unsere Eltern haben mit dem Schleckzeugs einen Weg gefunden, dass wir uns trotzdem unter die Dusche stellten – man könnte von Belohnung, aber auch von Manipulation sprechen (lacht).
Jana Mäder (28): «Gino hätte heute genauso Freude an diesem Schneemann»
In Flawil, wo Gino zur Welt kam, ist man von Geburt an Fan des FC St. Gallen – das sieht man an seiner Mütze (ich habe übrigens die rote Kappe an). Bei Gino kam dazu, dass sein Götti beim FCSG Juniorentrainer war. Wir waren auch einige Male im Espenmoos an einem Spiel, das war cool. Bei diesem Bild werde ich aber viel häufiger auf etwas anderes angesprochen. Nämlich darauf, wie wir es geschafft haben, einen fast drei Meter grossen Schneemann zu bauen (lacht).
Tatsächlich war es nicht ganz einfach. Zuerst hatten wir einen kleinen Schneemann gebaut, das war an einem Sonntag im Winter 2005 oder 2006. Dann kam Vati raus in den Garten und meinte: «Kommt, wir machen ihn viel grösser!» Das fanden wir Kinder natürlich toll und kratzten den ganzen Schnee der Nachbarschaft zusammen. Letztlich bestand die grösste Herausforderung darin, die Kugeln aufeinanderzutürmen – sie waren sauschwer. Vati holte ein Brett, wir rollten sie rauf – es war ein Knorz. Aber wir hatten riesigen Spass, und er blieb noch lange, als überall der Schnee bereits verschwunden war, stehen.
Gino hatte riesige Freude. Er war ein Mensch, der spontane und verrückte Ideen liebte. Mit Vati und einem Freund veranstaltete er als Teenager einmal ein Rahm-Wettessen, sie füllten dafür je eine Schüssel (lacht). Weil Gino zu wenig schnell startete, verlor er letztlich – irgendwann bringt man das Fett einfach nicht mehr runter. Aber alle hatten eine Gaudi.
Ich denke, dass Gino heute, als Erwachsener, genauso viel Freude an solchen Dingen hätte wie damals – vielleicht sogar noch mehr.
Lisa Camenzind (26): «Gino jagte den Bidon in die Luft»
Gino bedeutete es sehr viel, wenn wir ihn bei den Rennen besuchten – auch hier, bei Paris–Roubaix der Junioren im Jahr 2015. Ich bin übrigens jene rechts im Bild. Es war damals das erste grosse internationale Rennen von Gino, bei dem wir vor Ort waren. Das Ganze war für uns also Neuland und deshalb umso spannender. Wir mieteten ein Wohnmobil und stellten es irgendwo bei einem Pavé-Abschnitt ab – kurze Zeit später waren wir rechts und links von Fans eingepfercht, unglaublich.
Ich erinnere mich, wie ich mit Vati ein Tag vor Ginos Rennen selbst eine Ausfahrt gemacht habe – wir wollten nur ein Stündchen los, daraus wurden aber letztlich sechs Stunden, weil wir uns komplett verfuhren. Wir kauften irgendwann in einem Carrefour eine Cola. Sie rettete uns – so wie früher bereits einmal in Frankreich, als Gino auch dabei war. Der Unterschied: Damals hatten alle Läden geschlossen. Irgendwann schaffte es Vati dennoch, in einem Restaurant ein Cola zu organisieren. Er verteilte die Flüssigkeit in unsere Bidons und sagte: «Seid vorsichtig, wegen der Kohlensäure.» Und was machte Gino? Genau, er schüttelte seinen Bidon so stark, bis er explodierte. Vati konnte es kaum glauben, doch Gino lachte nur laut. So war er halt.
Paris–Roubaix stand nach unserem Besuch nie mehr auf Ginos Programm – klar, als Leichtgewicht war der Parcours bei den Profis nichts mehr für ihn. Umso schöner, dass wir ihn wenigstens einmal bei diesem mythischen Rennen vor Ort anfeuern durften. Das werde ich nie vergessen.