Normalerweise ist Marcus Urban problemlos erreichbar und spricht offen über das Tabu-Thema Homosexualität im Fussball. Doch wer zurzeit mit ihm Kontakt aufnehmen möchte, der erhält umgehend folgende schriftliche Antwort von ihm: «Ich bitte um Entschuldigung, dass ich eine allgemein verfasste Nachricht versende. Die Anfragemenge ist enorm und ich bin momentan nicht erreichbar. Herzlich Marcus Urban.»
Urban ist der Kopf eines speziellen Projekts namens «Sports Free». Ende 2023 gab der Deutsche bekannt, dass er für den 17. Mai 2024 ein Gruppen-Coming-out von Fussballern (und anderen Sportlerinnen und Sportlern) plant. Das Datum ist kein Zufall, denn der 17. Mai ist der sogenannte Idahobit, der Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie.
Als Urban diese Aktion ankündigte, war die Resonanz in den Medien gross. Doch seitdem hat man kaum mehr etwas darüber gehört. Was passiert nun an diesem Freitag? Nichts oder wird dieser Tag rückblickend gar in die Geschichtsbücher des Sports eingehen, weil gleich mehrere prominente Fussballer sich gleichzeitig outen?
«Ich dachte: Ich bin Fussballer, die sind nicht schwul»
Wie gross dieser Schritt wäre, weiss Marcus Urban selber. Der heute 52-Jährige galt in der DDR als grosses Talent und kommender Nationalspieler. Doch weil er seine Homosexualität nicht länger verstecken wollte, verzichtete er auf eine mögliche Karriere als Profi. 2007 schliesslich outete er sich, und 2008 erschien sein Buch «Versteckspieler. Die Geschichte des schwulen Fussballers Marcus Urban».
«Ich dachte: Ich bin Fussballer, die sind nicht schwul», erzählte Urban vor einigen Jahren Blick, «ich wollte Nationalspieler werden. Deshalb durfte ich gar nicht schwul sein.» Stattdessen mimte er den vermeintlich starken Hetero-Mann. «Ich wollte dem Bild eines ‹echten› Fussballers gerecht werden. Dazu gehörte, heterosexuell zu sein und möglichst viele hübsche Frauen zu haben. Deshalb hatte ich auch Freundinnen, nur habe ich mit denen Kreuzworträtsel gelöst und war nicht intim.»
Sein jahrelanges Versteckspiel hatte fatale Folgen. «Ich habe mich rund um die Uhr kontrolliert und dadurch nicht mehr gelebt. Ein Teil von mir war tot. Ich funktionierte wie eine Maschine. Höchstens 50 Prozent der Kraft standen mir zur Verfügung. Die restlichen 50 Prozent musste ich dafür aufbringen, um mich zu verbiegen und zu verstecken. Das war sehr schmerzhaft. Man fängt an, darüber nachzudenken, was das Ganze noch soll. Das Leben erscheint einem sinnlos. Ich wollte nicht mehr weiter. Ich war in einem Gefängnis.»
«Ich wurde zutiefst homophob beschimpft»
Solche Fälle wie der von Urban gibt es im Jahr 2024 leider immer noch. Ein Experte auf diesem Gebiet ist Oliver Egger. Der 31-Jährige spielt für den FC Gratkorn, hat sich 2016 als erster österreichischer Fussballer öffentlich geoutet und leitet beim Österreichischen Fussball-Bund (ÖFB) das Projekt «Fussball für alle», eine Anlaufstelle für LGBTQ-Personen im Fussball. Herr Egger, was passiert an diesem Freitag, dem 17. Mai? «Wenn ich das wüsste … Ich hoffe, es gibt keinen Rückzieher und es wird tatsächlich ein Gruppen-Coming-out stattfinden. In den letzten Jahren wurde ein solches immer mal wieder angekündigt, und dann passierte jeweils doch nichts. Sollte das nun wieder so sein, wäre das ein herber Rückschlag und kontraproduktiv.»
Dass sich schwule Fussballer mit dem Gang an die Öffentlichkeit aber schwertun, kann Egger nachvollziehen. Auch bei ihm war es ein langer Prozess bis zu seinem Outing. «Ich hatte jahrelang mit mir gehadert und mir und meinem Umfeld Lügengeschichten aufgetischt. Irgendwann aber kam der Punkt, an dem ich so nicht mehr weiterleben konnte und wollte. Nachdem ich meinem privaten Umfeld von meiner Homosexualität erzählt hatte, war für mich klar, dass ich mich auch im Fussball nicht weiter verstecken wollte, weil er einen grossen Teil meines Lebens ausmacht.»
Justin Fashanu (1990): Der Engländer war 1990 der erste Profifussballer, der sich während seiner Aktivkarriere outete. 1998 nahm er sich das Leben. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: «Schwul und eine Person des öffentlichen Lebens zu sein, ist hart.» 2020 wurde er in die «English Football Hall of Fame» aufgenommen, wohl auch als Eingeständnis, wie zuvor mit ihm umgegangen wurde.
Anton Hysen (2010): Der Schwede spielte in der 3. heimischen Liga, als er sich 2011 in einem Interview outete. Weltweite Schlagzeilen waren auch ihm dadurch gewiss. Damals sagte er: «Aber wo sind all die anderen? Das ist doch nicht normal.» 2020 liess er seinen Vornamen auf Antonio ändern.
Robbie Rogers (2013): Im Februar 2013 outete sich der US-Amerikaner und trat gleichzeitig vom Profifussball zurück, um wenige Monate später sein Comeback in der MLS zu geben. Er war dadurch der erste geoutete Fussballer, der in der nordamerikanischen Profiliga auflief.
Thomas Hitzlsperger (2014): «Ich äussere mich zu meiner Homosexualität. Ich möchte gern eine öffentliche Diskussion voranbringen – die Diskussion über Homosexualität unter Profisportlern», mit diesen Worten gab der einstige deutsche Nationalspieler im Januar 2014 in der «Zeit» sein Outing bekannt.
Collin Martin (2018): Was für eine Aktion! Als der bekennende homosexuelle US-Fussballer 2020 während eines Spiels mutmasslich homophob beleidigt wurde, entschied sein Team, den Platz zu verlassen. Deren Trainer Landon Donovan erklärte anschliessend: «Wir tolerieren keine homophoben Beschimpfungen.»
Andy Brennan (2018): Auf Instagram verkündete der Australier damals: «Ich wollte die Lüge nicht länger leben. Es hat Jahre gedauert, bis ich mich wohlgefühlt hab zu sagen, ich bin schwul.» Drei Monate danach sprach er im «Telegraph» über die Reaktionen: «Die waren erstaunlich, ich habe keine negativen Kommentare bekommen. Alle – Teamkollegen, Familie, Freunde – reagierten toll.»
Josh Cavallo (2021): Der Australier machte im Oktober 2021 öffentlich, dass er schwul ist. Der 24-Jährige spielt zurzeit in seiner Heimat für Adelaide. Im März dieses Jahres machte er seinem Freund einen Heiratsantrag.
Jake Daniels (2022): Über 30 Jahre nach Fashanu outete sich mit Daniels erstmals wieder ein englischer Fussballer. In einem Podcast sprach er ausführlich darüber, auch über mögliche Anfeindungen: «Wenn mich ein Fan homophob beschimpfen würde, würde ich lachen und sagen: ‹Ich verdiene mein Geld mit Fussball, du bezahlst Geld, um mich zu sehen.›» Zurzeit kickt der 19-Jährige bei Bradford.
Jakub Jankto (2023): Mit einer emotionalen Videobotschaft outete sich der Tscheche im Februar des vergangenen Jahres. Damals sagte er: «Wie jeder andere auch möchte ich in Freiheit leben, ohne Angst, Vorurteile oder Gewalt – aber mit Liebe. Ich bin homosexuell, und ich will mich nicht mehr länger verstecken.» Der 28-Jährige bestritt 45 Länderspiele und spielt zurzeit für Cagliari.
Justin Fashanu (1990): Der Engländer war 1990 der erste Profifussballer, der sich während seiner Aktivkarriere outete. 1998 nahm er sich das Leben. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: «Schwul und eine Person des öffentlichen Lebens zu sein, ist hart.» 2020 wurde er in die «English Football Hall of Fame» aufgenommen, wohl auch als Eingeständnis, wie zuvor mit ihm umgegangen wurde.
Anton Hysen (2010): Der Schwede spielte in der 3. heimischen Liga, als er sich 2011 in einem Interview outete. Weltweite Schlagzeilen waren auch ihm dadurch gewiss. Damals sagte er: «Aber wo sind all die anderen? Das ist doch nicht normal.» 2020 liess er seinen Vornamen auf Antonio ändern.
Robbie Rogers (2013): Im Februar 2013 outete sich der US-Amerikaner und trat gleichzeitig vom Profifussball zurück, um wenige Monate später sein Comeback in der MLS zu geben. Er war dadurch der erste geoutete Fussballer, der in der nordamerikanischen Profiliga auflief.
Thomas Hitzlsperger (2014): «Ich äussere mich zu meiner Homosexualität. Ich möchte gern eine öffentliche Diskussion voranbringen – die Diskussion über Homosexualität unter Profisportlern», mit diesen Worten gab der einstige deutsche Nationalspieler im Januar 2014 in der «Zeit» sein Outing bekannt.
Collin Martin (2018): Was für eine Aktion! Als der bekennende homosexuelle US-Fussballer 2020 während eines Spiels mutmasslich homophob beleidigt wurde, entschied sein Team, den Platz zu verlassen. Deren Trainer Landon Donovan erklärte anschliessend: «Wir tolerieren keine homophoben Beschimpfungen.»
Andy Brennan (2018): Auf Instagram verkündete der Australier damals: «Ich wollte die Lüge nicht länger leben. Es hat Jahre gedauert, bis ich mich wohlgefühlt hab zu sagen, ich bin schwul.» Drei Monate danach sprach er im «Telegraph» über die Reaktionen: «Die waren erstaunlich, ich habe keine negativen Kommentare bekommen. Alle – Teamkollegen, Familie, Freunde – reagierten toll.»
Josh Cavallo (2021): Der Australier machte im Oktober 2021 öffentlich, dass er schwul ist. Der 24-Jährige spielt zurzeit in seiner Heimat für Adelaide. Im März dieses Jahres machte er seinem Freund einen Heiratsantrag.
Jake Daniels (2022): Über 30 Jahre nach Fashanu outete sich mit Daniels erstmals wieder ein englischer Fussballer. In einem Podcast sprach er ausführlich darüber, auch über mögliche Anfeindungen: «Wenn mich ein Fan homophob beschimpfen würde, würde ich lachen und sagen: ‹Ich verdiene mein Geld mit Fussball, du bezahlst Geld, um mich zu sehen.›» Zurzeit kickt der 19-Jährige bei Bradford.
Jakub Jankto (2023): Mit einer emotionalen Videobotschaft outete sich der Tscheche im Februar des vergangenen Jahres. Damals sagte er: «Wie jeder andere auch möchte ich in Freiheit leben, ohne Angst, Vorurteile oder Gewalt – aber mit Liebe. Ich bin homosexuell, und ich will mich nicht mehr länger verstecken.» Der 28-Jährige bestritt 45 Länderspiele und spielt zurzeit für Cagliari.
Die Reaktionen darauf seien innerhalb seines Klubs ausschliesslich positiv gewesen. «Es gab überhaupt keine Probleme. Im Gegenteil, die homophobe Sprache, die auch bei uns im Verein gelegentlich vorkam, gibt es seitdem nicht mehr, weil die Leute durch mein Outing sensibilisiert wurden.» Doch Egger machte auch negative Erfahrungen. «Ich wurde einige Male von Gegenspielern und Zuschauern zutiefst homophob beschimpft. Deshalb verstehe ich, dass sich viele schwule Fussballer nicht outen möchten.»
Als Ombudsmann von «Fussball für alle» bekommt Egger genau diese Angst vor negativen Kommentaren und Reaktionen regelmässig zu hören. Pro Jahr melden sich bei ihm durchschnittlich drei bis fünf Spieler. «Viele haben Angst vor Diskriminierung und Mobbing. Sie befürchten, dass sie sich nach einem Outing einen neuen Klub suchen müssen. Ich höre ihnen dabei vor allem zu, schildere ihnen den Weg, den ich gegangen bin, und sage ihnen aber gleichzeitig, dass sie ihren eigenen Weg, der für sie stimmt, gehen müssen.»
Wie schwierig das Ganze ist, belegt die Tatsache, dass sich seit Egger kein österreichischer Fussballer mehr öffentlich geoutet hat.
Es stellt sich unweigerlich auch die Frage, welche Rolle wir Medien dabei spielen. Sollten wir diese Geschichte, die Sie gerade lesen, gar nicht machen, weil die sexuelle Orientierung eines Fussballers ja gar keine Rolle spielen darf? «Ich bin da auch hin- und hergerissen», antwortet Egger, «eigentlich darf das im 21. Jahrhundert in den Medien kein Thema mehr sein, gleichzeitig hilft aber auch die Sichtbarkeit dieses Themas, denn junge Menschen benötigen öffentliche Vorbilder, an denen sie sich orientieren können.»
«Viele Staaten haben den Rückwärtsgang eingelegt»
Wie gross das Thema 2024 noch immer ist, zeigt auch der Dokumentarfilm «Das letzte Tabu» von Manfred Oldenburg. In der Amazon-Doku, die am 11. Juni auch im ZDF zu sehen ist, geht es um schwule Fussballer. «Ich habe noch nie so viele Absagen für einen Film bekommen wie in diesem Fall», erklärte Regisseur Oldenburg kürzlich in einem Podcast von «Schwule Welle». Selbst Funktionäre wollten sich nicht dazu äussern. Aus Angst, sich die Finger zu verbrennen.
Auch Oldenburg hofft deshalb auf den 17. Mai und auf das angekündigte Gruppen-Outing: «Das wäre ein Meilenstein.» Egger geht es ähnlich: «Ich bin sehr gespannt, ob dann endlich ein grosser Schritt nach vorne gemacht wird – oder eben doch nicht.» Denn durchwegs positiv blickt Egger nicht in die Zukunft. «Das Ganze ist ja nicht nur ein Fussball-Thema, sondern auch ein gesellschaftliches, und leider haben in den letzten Jahren viele Staaten den Rückwärtsgang eingelegt. Deshalb haben wir noch einen weiten Weg vor uns, im Fussball und in der Gesellschaft.»
Beispiele, die Eggers Aussage unterstützen, gibt es zur Genüge. In Polen zum Beispiel wurden in den letzten Jahren sogenannte LGBT-ideologiefreie Zonen eingeführt und eine Studie von 2019 kam zum Ergebnis, dass 42 Prozent aller Polen gegen die Akzeptanz von Homosexuellen sind. In Ungarn trat 2021 ein Gesetz in Kraft, das unter anderem Aufklärungskampagnen für Schüler oder Darstellung von Homosexualität massiv einschränkt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach damals von einer «Schande». Und selbst im auf den ersten Blick toleranten und offenen Deutschland nahmen in den vergangenen Jahren tätliche Angriffe auf Homosexuelle deutlich zu.
Trotz dieser Negativnachrichten ist das grosse Ziel für Oliver Egger klar: «Unsere Hoffnung war es immer, dass wir das Projekt ‹Fussball für alle› durch unsere Arbeit selber abschaffen. Sollte es dereinst so weit kommen, wäre ich sehr, sehr glücklich.»
Vielleicht wird am 17. Mai ein erster richtig grosser Schritt auf diesem Weg gemacht.