Fragt man einen Menschen, was das Gegenteil von Liebe sei, antworten viele, es sei Hass. Doch das Gegenteil der Liebe ist vielmehr die Angst. Beide Kräfte nehmen erheblichen Einfluss auf unsere Sicht-, Denk- und Sprechweise sowie auf unsere Entscheidungen: Wenn wir verliebt sind, nehmen wir unsere Umwelt als freundlich und friedlich wahr und sind voller Zuversicht, was unsere Zukunft und die unserer Kinder anbelangt.
Sind wir hingegen in Angst, wittern wir überall Gefahr, Betrug und Verlust und hegen ständig Zweifel. Es ist kein Wunder, dass unsere Laune dabei immer schlechter wird. Verwunderlich ist jedoch, dass wir nicht erkennen, woher unsere Misslaune tatsächlich rührt, nämlich eben von unseren Ängsten, und keineswegs von den zugegebenermassen unerfreulichen Dingen, die wir dadurch herbeigeführt haben.
Oft bleiben wir aus Angst
So erzeugt es gewiss einiges an Unbehagen, sich für wenig Lohn von einem sadistischen Vorgesetzten schikanieren und ausbeuten zu lassen, doch dass wir nichts daran ändern, ist nur der Angst zuzuschreiben, als Sozialfall zu enden. Hegten wir diese Furcht nicht und wären überzeugt, jederzeit einen besseren Job finden zu können, würden wir noch heute aufbrechen.
Das Gleiche gilt für unglückliche Beziehungen. Wir beenden diese nur deshalb nicht, weil wir glauben, eine vernichtende Trennung durchleben und für immer allein bleiben zu müssen. Auch hier wählen wir vor lauter Angst das vermeintlich kleinere Übel. Allerdings unterscheiden sich die beiden Wahlmöglichkeiten – Bleiben oder Gehen – nur bezüglich ihres Realitätsgrades: Während das Leiden, das wir durch Ausharren erzeugen, tatsächlich existiert, befürchten wir seine Verschlimmerung lediglich.
Angst erzeugt Hirngespinste
Und hierin liegt das Faszinierende an der Angst: Wir halten die Dinge, die sie uns einflüstert, für real. Dass sie bisher nicht eingetroffen sind, ändert nichts daran. Das zeigt sich deutlich in der aktuellen Flüchtlingskrise. Viele befürchten einen «Ansturm» und eine «Überflutung» durch «Schmarotzer» und «Terroristen». Es darf jedoch davon ausgegangen werden, dass die Menschen, die so über andere Menschen reden, nie persönlichen Kontakt mit den fraglichen Personen gehabt haben, beispielsweise vor Ort oder hier in einer Flüchtlingsunterkunft.
Sonst hätten sie erkannt, dass die Frauen, Männer und Kinder, die vor Krieg und Terror in Syrien, Irak und Afghanistan flüchten, ganz normale Leute sind, wie sie einem überall begegnen. Würden sich die Hetzer also bemühen, nicht irgendwelche niederträchtigen Behauptungen nachzuplappern, sondern sich ein eigenes Bild zu machen, würden sie bald feststellen, dass sie nicht gegen Diebe und Vergewaltiger gehetzt haben, sondern gegen das einfache Volk; dass ihre Ängste also keine äussere Berechtigung gehabt haben.
Wovor haben wir wirklich Angst?
Sie hätten einen «War ja gar nicht so schlimm»-Moment, wie der kleine Junge, der zum ersten Mal vom Dreimeterbrett gesprungen ist, und würden den Quell ihrer Angst ausmachen können, nämlich sich selbst. Sie würden erkennen, dass die Behauptung «Die Flüchtlinge sind eine Gefahr für unser Land» nichts anderes ist als eine nach aussen gerichtete Formulierung der simplen Aussage «Ich habe Angst». Doch wovor haben wir wirklich Angst? Was ist es, das die Flüchtlinge uns real wegnehmen könnten? Müssen wir mehr Steuern zahlen, wenn sie kommen? Werden sie uns ausrauben? Werden sie unsere Frauen schänden?
Und warum denken wir so über sie, ganz abgesehen davon, dass wir bezüglich der schlechten Behandlung der Frauen nun wirklich keine Verstärkung benötigen? Haben wir am Ende nicht vielmehr Angst vor dem Leben und all seinen Unwägbarkeiten? Warum gehen wir davon aus, keine passendere Arbeit und keinen passenderen Partner zu finden? Sagen wir damit wirklich etwas über den Arbeits- beziehungsweise Heiratsmarkt aus – oder nicht eher etwas Demütigendes über uns selbst?
Unsere Ängste, das sind wir selbst
Unsere Ängste bilden nicht auf hellseherische Weise die Wirklichkeit ab, sondern vielmehr unsere Sicht auf ebendiese – wie auf uns selbst. Sie sind keine Hinweise auf das Kommende, sondern auf das Geschehene. Wer als Kind von seinen Eltern emotional vernachlässigt worden ist, wird später von seinen Partnern und Freunden das gleiche erwarten und ihnen ständig entsprechende Vorwürfe machen – ungeachtet deren Berechtigung.
So gross ist seine Furcht, man könne ihn erneut ignorieren, dass er ständig Belege dafür vorzufinden glaubt. Solcherlei macht das Zusammensein schwer und mithin unmöglich. Unsere Ängste, das sind wir selbst. Wann immer wir eine Befürchtung aussprechen, händigen wir der Welt eine Visitenkarte aus, auf der unser tatsächliches Wesen vermerkt ist: Zweiflerin, Feigling, Zukurzgekommener, Vergewaltigte, Verprügelter, vernachlässigtes Kind.
Doch wer will sich schon damit auseinandersetzen – mit dem wahren Grund für seine Panik? Es ist einfacher, sie auf andere zu projizieren und damit auch gleich die Verantwortung zu übertragen. Wer wenig hat und fürchtet, auch noch das zu verlieren, ist empfänglich für alle möglichen Verdächtigungen und Dämonisierungen von aussen wie von innen.
Der Mensch scheint mit einem inneren Schwamm ausgerüstet zu sein, der jede bösartige Befürchtung aufsaugt und in sein Blut übergehen lässt, und zwar unter strikter Umgehung des Verstandes. Nur so war es den Nazis möglich, dem deutschen Volk weiszumachen, «die Juden» seien schuld an dessen kläglicher Lage, wobei sie angenehmerweise auf mehrere Tausend Jahre antisemitischer Vorarbeit aufbauen konnten.
Die menschliche Arglosigkeit, die allem Glauben schenkt, was wir hören, lesen und uns selbst ausdenken – verbunden mit schlechten Erfahrungen in der Kindheit – ergibt eine teuflische Mixtur, die uns ständig panisch und defensiv reagieren lässt und dazu führt, dass wir ein Leben weit unterhalb unserer Möglichkeiten führen, weil wir ironischerweise sogar Angst vor unserer eigenen Grösse und dem Glück haben.
Was tun gegen die Ängste?
Nicht ohne Grund genügt es völlig, auf Plakaten mit dem Verlust von Arbeitsplätzen zu drohen, um jede soziale Initiative dem Untergang zu weihen. Was können wir aber tun gegen unsere Ängste?
Erstens hilft es, sie zu benennen, das nimmt ihnen schon fast die ganze Macht. Statt unseren Partner, den wir für untreu halten, einem Verhör zu unterziehen und sein Handy zu kontrollieren, können wir mit ihm über das sprechen, worum es wirklich geht, nämlich über unsere Furcht, für ihn nicht attraktiv genug zu sein und damit letztlich nicht liebenswürdig. So vermeiden wir einen Konflikt, bei dem es nur Verlierer geben kann und der ziemlich sicher damit endet, dass unser Partner unser Verhalten tatsächlich irgendwann als unattraktiv empfindet, und erlangen stattdessen eine tiefere Verbundenheit mit ihm wie auch mit uns selbst. Auch der unbefriedigende Job führt ziemlich umweglos zur interessanten Frage nach den wahren eigenen Talenten und den Gründen, warum wir diese nicht ernst nehmen und ausleben.
Zweitens hilft uns ein Blick zurück. Von all den Befürchtungen, die wir bisher gehegt und die einiges an wertvoller Lebenszeit verunstaltet haben – wie viele haben sich bestätigt? Was von dem, was wir für die kommende Wahrheit gehalten haben, ist wirklich wahr geworden? Sind wir gute Hellseher gewesen? Die Italiener, Türken, Tamilen, Jugoslawen, haben sie unser Land zerstört? Sind unsere Kinder entführt und ermordet worden? War unsere letzte Trennung wirklich so schlimm, wie wir glaubten? Die meisten unserer Schreckensfantasien sind Fantasien geblieben. Wir sind verschont worden von all den Unglücken, Verlusten, Problemen und Schmerzen, die wir zu erahnen geglaubt haben.
Rückschläge und Enttäuschungen gehören dazu
Drittens nehmen wir uns zu ernst. Rückschläge und Enttäuschungen gehören zum Leben, und zwar nicht wie das Altern, sondern wie die Schule. Wir brauchen sie, um herauszufinden, was uns gut tut und was nicht. Wenn wir sie vermeiden, weil wir den Schmerz fürchten, den sie erzeugen, lernen wir nichts und wachsen nicht. Wer sich nicht beruflich selbständig macht, wird nicht die entsprechenden Risiken und die damit verbundenen Sorgen erdulden müssen. Aber er wird auch nie herausfinden, wie es ist, wenn man das tut, worin man gut ist und was einen glücklich macht.
Und viertens können wir uns daran erinnern, dass die Angst das Gegenteil der Liebe ist. Anstatt die Zukunft als etwas zu betrachten, das uns berauben und erniedrigen wird, können wir uns ausmalen, wie sie uns mit Freude und Fülle versorgt. Wir können uns darin üben, den Blick vom einen, dem Schrecklichen, zum anderen, dem Erfreulichen, zu richten, eingedenk der unbestreitbaren Tatsache, dass das, was noch nicht eingetroffen ist, auch noch nicht wahr ist. Wir können dem, was wir so sehr fürchten, versuchshalber wohlgesinnt gegenübertreten, oder im Mindesten neutral abwartend. Bestätigen sich unsere Befürchtungen, können wir immer noch so auf die Gegebenheiten reagieren, wie wir präventiv auf sie reagieren zu müssen geglaubt haben.
Anstatt aus Angst 400'000 Franken zu zahlen, um zu verhindern, dass zehn Flüchtlinge im Dorf einquartiert werden, weil man überzeugt ist, dass sie dieses nur ausnutzen und verwüsten werden, obwohl man keinen einzigen von ihnen kennt, hätte man sagen können: «Wir probieren es jetzt mal. Vielleicht finden wir ja zehn tolle neue Mitbürger. Rauswerfen können wir sie immer noch.»