Der VW Golf wird 50 Jahre alt
Revoluzzer, Rowdy und Rotsünder

«Golf bleibt Golf», so warb Volkswagen einst für seinen Bestseller, der 1974 seine Karriere startete. An Konzept und Kernkompetenzen änderte sich nichts, aber jede Generation war er ein Kind ihrer Zeit. Wir blicken zurück auf fünf Jahrzehnte.
Publiziert: 19.01.2024 um 11:25 Uhr
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Aktualisiert: 11.07.2024 um 16:52 Uhr
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Alles acht Generationen auf einem Bild: Seit 1974 gibt es den VW Golf.
Foto: Zvg
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Andreas FaustLeitung Auto & Mobilität

Vor allem hat er Glück gehabt, der Golf. Denn als bei Volkswagen Anfang der 1970er-Jahre die Revolution losbrach, rollte er keineswegs in der ersten Reihe. Der Passat bliess schon ab 1973 den Mief der Biederkeit aus den VW-Werkhallen, der Sportwagen Scirocco fegte im März 1974 die letzten Reste weg. Aber erst der zwei Monate später präsentierte Golf katapultiert das verschlafene Volkswagen mit einem Schlag in die Moderne. Erst auf dieses Auto konnten und können sich alle einigen. Mit dem kantigen Kompaktwagen beginnt VWs Aufstieg zum Global Player.

Man könnte auch sagen: Kratzt der Konzern vor dem drohenden Konkurs noch so gerade die Kurve. Seit 1946 krabbelt vor allem der Käfer von den Produktionsbändern im Werk Wolfsburg (D). In den Grundzügen ein Auto der 1930er-Jahre und bei allen Detailverbesserungen technisch eine rollende Antiquität, die nur noch notdürftig an die Kundschaft gebracht werden kann. Alternativen? Die behördenartigen VW-Strukturen bremsen, die Kassen sind leer, die Geschäftsleitung orientierungs-, die Ingenieure konzeptlos. Schon 1967 gibts einen Prototypen für die Käfer-Ablösung – mit Frontmotor und Wasserkühlung. Aber niemand wagt ein Serienmodell. VW klebt am Käfer.

Giugiaro krempelt alles um

Der erst zweite CEO nach dem Zweiten Weltkrieg, Kurt Lotz (1912–2005), wagt schliesslich 1970 den Befreiungsschlag – bevor ihn ein Jahr später die Gewerkschaften aus dem Amt drängen – und heuert einen jungen italienischen Designer an. Giorgio Giugiaro (85) zieht wenige Linien übers Papier, setzt klare Kanten und dreht die Technik um: Motor und Antrieb vorne, dafür gibts einen riesigen Kofferraum dort, wo beim Käfer noch der Boxermotor rappelt. Weil das Getriebe zum Motor rückt, bleibt trotz nur 3,70 Metern Länge vergleichsweise viel Platz im Innenraum. Und der Name? Nach Passat und Scirocco wird jetzt der Golfstrom zum Namenspaten. Oder sind es doch der Ballsport oder gerüchteweise das Rennpferd eines VW-Mitarbeiters? Nicht rekonstruierbar.

Und eigentlich auch egal. Was zählt, ist die einzigartige Erfolgsgeschichte. In der Schweiz und vielen europäischen Ländern zementiert sich der Golf für Jahre und Jahrzehnte über seine acht Generationen hinweg an der Spitze der Verkaufsstatistik ein. Erst Ende 2020 rutschte er bei den europäischen Verkäufen von der Poleposition, in der Schweiz hielt er sie immerhin bis 2016. Das Golf-Geheimnis: Nur nicht zu viel ändern. Einen Golf konnte man mit verbundenen Augen kaufen und wusste dennoch genau, was einen erwartete – bis hin zur Position von Lichtschalter und Warnblinker. Wahrscheinlich auch der Grund, warum er zum Fahrschulauto par excellence avancierte.

Pulsmesser des Konzerns

Läuft der Golf, läuft es für VW. Kränkelt er, läuten alle Alarmglocken. Nach zähem Start brach erst 1975 das Golf-Fieber so richtig los: die Form, die Alltagstauglichkeit – was für ein Fortschritt zum Fossil Käfer. Selbst rostender Recyclingstahl, den die DDR im Gegengeschäft an VW lieferte, um nicht Devisen für Westprodukte ausgeben zu müssen, kann die Begeisterung kaum bremsen. Ab 1977 können Westdeutsche gegen harte D-Mark den Golf sogar an die Verwandtschaft im Osten verschenken – weshalb der Golf 1989 beim Zusammenbruch des Ostblocks von beiden Seiten über die geöffnete Grenze fährt.

Aber gut war der Golf immer nur dann, wenn VW sich richtig ins Zeug legt: Als Revoluzzer war der Erfolg der ersten Generation schon vorprogrammiert, für die zweite ab 1983 verbessert der Konzern die Schwachstellen derart, dass noch heute einige Exemplare herumfahren. Bei Generation III muss VW der Kassenlage wegen den Rotstift zücken – der Golf nervt mit mässiger Verarbeitung. Und VW-Patron Ferdinand Piëch piesackt seine Ingenieure so lange, bis beim Nachfolger die Fugen zwischen den Blechen wieder perfekt verlaufen.

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Der VW Golf wird 50 Jahre alt. Über acht Generationen hinweg wurde er stärker, schneller und grösser – und sanken die Stückzahlen dank mehr Konkurrenten.
Foto: Christian Bittmann für Volkswag

Sah man bei der ersten Generation noch innen auf nacktes Blech, stiegen die Ansprüche der Kundschaft schnell. Heute kann man sich mit der Ausstattung eines VW Golf stundenlang beschäftigen, ohne nur einen Meter gefahren zu sein. Parallel wuchs der Fünfplätzer aus seinen Kinderschuhen heraus: Ein aktuelles Exemplar überragt den Ur-Golf um einen halben Meter in der Länge und bringt eine halbe Tonne mehr auf die Waage.

Varianten kommen und gehen – nur der GTI kommt, um zu bleiben. Mit 1,6 Litern Hubraum, 110 PS (81 kW) und 810 Kilogramm Gewicht reisst die Sportversion des Golf ab 1976 die Kundschaft vom Hocker. Sportwagen und gleichzeitig Familienkutsche – das gabs noch nie so günstig. Wilde Sondermodelle folgen über alle Generationen hinweg – mit im aktuellen Golf R bis zu 333 PS – und manch rüpeliges Tuning-Kit zum Selber-Basteln verschlimmbessert die klaren Karosserielinien des Golf. Mit dem Kombi namens Golf Variant macht sich VW beim grösseren Passat bis heute fast selbst Konkurrenz; die Seniorenversionen mit höherer Sitzposition sind dagegen längst dem SUV-Boom zum Opfer gefallen. Und die Konkurrenz schlief nicht, sondern lancierte eine Neuheit nach der anderen in der sogenannten Golf-Klasse – das drückte immer mehr auf die Verkaufszahlen.

Erst Avantgarde, jetzt Mainstream

Golf bleibt Golf, aber die Welt um ihn herum nicht stehen. Beim Start kauften Avantgardisten, in den 1980ern motorisierte er bezahlbar Familien und wirkte noch immer leicht der Zeit voraus. Doch spätestens zehn Jahre später war er in der Mitte der Gesellschaft angekommen – ein Auto fürs Hier und Jetzt, das nicht provoziert, nicht heraussticht, sondern einfach mitschwimmt. Jugend rebelliert? Nicht so die sogenannte «Generation Golf», beschworen vom Autor Florian Illies (52), der den Jugendlichen der 1980er-Jahre Hedonismus, mangelndes Engagement und die völlige Absenz politischen Interesses bescheinigte. Wie die Eltern schon Golf fuhren, so strebe auch der Nachwuchs nach nichts anderem. Allenfalls die Aufkleber auf den Sondermodellen Genesis oder Pink Floyd signalisieren Distanz zum elterlichen Vehikel. Der einst revolutionäre VW wird Mainstream.

Und die Zukunft? Noch diesen Januar zieht VW das Tuch von einer aufgefrischten Version der aktuellen Generation VIII, die vor allem bei der Software den einstigen Bestseller wieder up to date bringen soll. Dieser Golf wird der letzte mit Verbrennungsmotor sein. Aber VW hat gelernt: Statt ihn durch ein ID-Modell ähnlich dem ID.3 zu ersetzen, soll er auch als reiner Stromer künftig wieder Golf heissen. Aber ob er wieder zum Innovator wird?

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