Dieser Mann scheint älter als seine 69 Jahre. Er geht gebeugt, redet leise und wirkt gebrochen. Josef Ganz (1898–1967) ist krank, arbeitslos, verschuldet und hier – im australischen Melbourne – ein einsamer Niemand. Ein letztes Mal rebelliert der einst so streitbare Autoingenieur. «Ich habe den Volkswagen erfunden!», zitiert ihn eine lokale Zeitung. Doch die grosse Autowelt, die hat ihn längst vergessen.
Dabei hatte es alles so hoffnungsfroh angefangen, damals in Wien. Eine Zeitung schwärmt 1910 über den Jungen aus Österreich-Ungarn: «Der junge Techniker verspricht ein berühmter Mann zu werden.» Der «Seppl» gerufene Bub, abgebildet im modischen Matrosenanzug, hat eine Schutzvorrichtung für Wiens elektrische Strassenbahnen entwickelt. Das Patent wird ihm erteilt. Ganz ist zwölf Jahre alt!
Vom Ingenieur zum Visionär
Aus «Seppl» wird Josef Ganz. Er studiert, wird in Frankfurt (D) Chefredaktor der «Motor-Kritik». Bei Autotests moniert er, die deutschen Autobauer könnten weder günstige Massenmobile à la Ford T noch fortschrittliches Design. Also entwirft er 1923 den «Ganz-Klein-Wagen» mit rundlicher Karosserie. Später noch mit Zentralrohr-Rahmen, Pendelachsen und Heckmotor weiterentwickelt, macht er Ganz zum gefragten Visionär. 1930 entsteht der Prototyp Ardie-Ganz und 1931 ein Zweisitzer. Den nennt er der Form wegen bereits «Maikäfer». Ganz patentiert, konstruiert für so grosse Marken wie Adler, BMW oder Mercedes. Standard aus Ludwigsburg (D) sagt Ja zu Ganz' Ideen und bewirbt den neuen Kleinwagen Superior von Ganz als «deutschen Volkswagen». Ein Volkswagen – einer für alle.
Hitler gefällt das Werk von Ganz
Ganz ist jetzt ein Jemand. Der brillante Ingenieur glaubt an den Fortschritt. So sehr, dass er sich sogar freut, dass Adolf Hitler (1889–1945) das Volk auch auf der Strasse mobil machen will, wie Hitler auf der Berliner Automesse 1933 verkündet. Beim Rundgang verweilt der Diktator lange am Standard Superior. Lange. Sehr lange. Fühlt sich Ganz geehrt? Gewiss. Er ist Jude, aber ihm selbst ist das völlig egal. Ja, eine Nazi-Postille hatte ihn schon mal einen «jüdischen Schädling» genannt. Aber Ganz hatte sich mutig juristisch gewehrt. Mit Erfolg. Noch.
Der Standard floppt zwar nicht an sich selbst, wohl aber an den Nachwehen der Wirtschaftskrise. Dann kommt die Gestapo. Nach einem Monat Haft ist Ganz wieder frei. Aber er ist jetzt kein Ingenieur mehr, sondern nur noch Jude. Standard und Mercedes müssen ihn zwangsweise feuern, Ganz' Name gilt als tabu. Ganz wird unsichtbar. Ein alter Auftraggeber warnt ihn vorsichtig: Hitler werde sich seinen Volkswagen wohl kaum von den Patenten eines Juden verderben lassen.
Käfer krabbelt ohne Ganz
Ganz versteht – und flieht 1934 in die Schweiz. Sein Vater schrieb einst für die «NZZ», Ganz kennt das Land gut, hat hier Verwandte. 1938 entzieht ihm das Dritte Reich die Staatsbürgerschaft – und alle seine Patente. Der Käfer krabbelt als KdF-Wagen los, benannt nach der Nazi-Arbeiterorganisation «Kraft durch Freude». Entwickelt seit 1934 von Ferdinand Porsche (1875–1951) auf Geheiss des Führers. Ganz ohne Ganz. Hitler selbst zeichnet eine Skizze des neuen «Volkswagens». Die ähnelt wie später die ganze Konstruktion verblüffend Ganz' Standard Superior.
Also fängt Ganz, dieser Ver- und Getriebene, eben neu an. Gefördert vom Bund, baut er jetzt Prototypen eines «Schweizer Volkswagens», den die Dietikoner Motormäher-Marke Rapid herstellen soll. Doch wieder kommen ihm die Nazis in die Quere: 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg. Im Deutschen Reich wird der KdF- vom Volks- zum Kübelwagen, in der Schweiz wird das Autoprojekt vertagt. Der Arm der Gestapo reicht bis Zürich: Ganz wird denunziert. Im unverblümt antisemitischen Polizeirapport in der ach so neutralen Schweiz heisst es, dieser «unerwünschte Ausländer» knüpfe Interessenten Geld ab. Ein «Parasit», der sogar trotz ÖV-Abo Auto fahre! Ganz spielt dies der Presse zu. Der entstehende Skandal schützt ihn vorerst. Nur vorerst: Der Schweizer Obrigkeit ist Ganz fortan ein Querulant.
Die Schweiz weist Ganz aus
Nach dem Krieg startet der Rapid, aber seine Zeit ist vorbei: Nur 36 davon werden gebaut. Ganz steht vor dem Nichts und verklagt nicht nur VW. Er will endlich sein Recht, aber gilt als schwierig. In St. Moritz GR saust der Schweizer Bob 1948 zu olympischem Gold – dank neuer Kufen-Federung von Ganz. Die Schweiz dankt es ihm nicht: 1950 wird er unter bis heute unklaren Umständen verhaftet. Ausweisung! Es bleiben ihm nur 24 Stunden.
Andere werden geehrt
Josef Ganz gibt auf. Die Projekte, die Suche nach Anerkennung – und sich selbst. Er ist jetzt 52 Jahre alt, pleite und arbeitslos und ein staatenloser Niemand, fühlt sich ignoriert. Er will nur noch weg. So weit wie möglich weg. In Australien arbeitet er fortan ganz leise für die GM-Marke Holden. Doch der Käfer, er verfolgt ihn: In seiner kleinen Melbourner Mietwohnung liest Ganz 1955 vom millionsten Käfer. Liest vom Mercedes-Ingenieur Béla Barényi (1907–1997), der sich den Rang, einer der vielen Käfer-Väter zu sein, gerichtlich erzwungen hat wie Tatra-Ingenieur Hans Ledwinka (1878–1967). Ganz wird nur als Fussnote erwähnt. Wenn überhaupt mal.
Doch dann, 1961 sieht es plötzlich doch nach Happy End aus. Die Bundesrepublik Deutschland will ihm das Bundesverdienstkreuz verleihen – und VW-Boss Heinrich Nordhoff (1899–1968) persönlich schreibt, man brauche ihn nun bitte in Wolfsburg (D) als Ingenieur. Ganz strahlt. Nach all den Jahren! Doch er muss diese Ehrung ablehnen – ein australisches Gesetz. Er will jetzt wenigstens nach Wolfsburg – aber da streckt ihn ein Herzinfarkt nieder. Ganz kann nicht mehr. 1965 ist VW beim zehnmillionsten Käfer. Ganz ist depressiv. Der Käfer läuft und läuft, bis 2003 findet er 21,5 Millionen Freunde. Josef Ganz stirbt 1967 mit 69 Jahren. Ganz allein.