Mehr als 1000 Leute erweisen Mäder (26†) die letzte Ehre
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Trauerfeier beginnt:Mehr als 1000 Leute erweisen Mäder (26†) die letzte Ehre

Vor 100 Tagen verunglückte Rad-Ass Gino Mäder (†26) – Blick besucht mit Vater Andreas den Unfallort
«Gino stirbt erst, wenn wir ihn vergessen»

Am 15. Juni stürzte Radprofi Gino Mäder in der Abfahrt am Albulapass so schwer, dass er einen Tag später starb. Vater Andreas erzählt, wie die Familie mit dem Schicksalsschlag umgeht und warum er nichts von panischen Reaktionen im Radsport hält.
Publiziert: 24.09.2023 um 10:31 Uhr
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Aktualisiert: 24.09.2023 um 13:11 Uhr
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Andreas Mäder besucht die Stelle, wo sein Sohn Gino Mäder tödlich verunfallte. Der Radprofi wurde 26 Jahre alt.
Foto: BENJAMIN SOLAND

Der Wind bläst, die Sonne blinzelt durch die Wolken, Murmeli pfeifen in der Ferne. «Einfach wunderschön», sagt Andreas Mäder und blickt in die Ferne. Es ist kurz nach 10 Uhr. Noch ist es ruhig am Albulapass, nur selten fahren Töffs vorbei, kaum ein Velofahrer keucht zu dieser Zeit zum Hospiz auf 2315 Metern hoch. Das Thermometer zeigt 11 Grad an, später wird es wärmer werden.

Mäder steht in jener Linkskurve, die seinem Sohn Gino zum Verhängnis wurde. Am 15. Juni stürzte er in der Abfahrt nach La Punt GR schwer – so schwer, dass die Familie tags darauf verkünden musste, dass Gino gestorben ist. Er wurde 26 Jahre alt. Sein Vater sagt: «Ich wünsche mir, dass der Albulapass auch künftig von der Tour de Suisse befahren wird.»

Am Leitpfosten, wo Gino Mäder geradeaus den Hang hinunterstürzte, dreht ein Windrädchen – ein Velokäppli und eine Fahrradklingel wurden ebenfalls befestigt. Darunter sieht man Fotos von Gino in Schwarz-Weiss. Einige haben Blumen hingelegt oder Abschiedsworte auf Steine geschrieben. «In unseren Herzen lebst du weiter» und «wir vermissen dich», steht da. «Es ist fast, wie in einem Familienalbum zu stöbern», sagt Mäder. Er richtet umgefallene Kerzen auf und meint mit Tränen in den Augen: «Gino stirbt erst, wenn wir ihn vergessen. Und das werden wir niemals tun.»

Traurig, aber nicht hoffnungslos

Mäder spricht offen, er erzählt von den Leiden seiner Familie, zu der er auch Ginos Freundin Meret hinzuzählt. Sandra, seine Ex-Frau, leide fest. Und auch die drei Töchter, Ginos Schwestern, würden brutal kämpfen. «Sie und Gino waren wie ein Rad, sie gehörten einfach zusammen. Und jetzt wurde ein grosser Teil davon herausgerissen. Die drei sind nun nicht mehr komplett.» Er selbst habe immer wieder Momente, wo die Gefühle ihn übermannen. «Ich bin immer noch oft traurig», meint er, «aber ich bin nicht hoffnungslos.»

Die Anteilnahme, die die Familie Mäder erhält, ist riesig. Viele Aussenstehende meinen dabei, sie können sich gar nicht vorstellen, wie schlimm es sein müsse, den eigenen Sohn zu verlieren. Mäder interveniert: «Da müssen wir aufpassen, denn es ist für alle schlimm. Wir alle haben Gino verloren – es gibt keine Rangliste, wer mehr oder wer weniger trauert. Ich erhebe keinen Anspruch, auf nichts. Ich habe meinen Buben verloren. Na und? Es gibt einen Haufen Väter, die ihre Kinder verlieren. Nur weil Gino gut Velo fahren konnte und man ihn kannte, muss man kein Drama daraus machen.» Mäder ist mal pragmatisch und nüchtern, mal emotional und sensibel – es ist ein hin und her. 

«Gino fuhr allein, war zu schnell unterwegs und hat die Kurve verpasst. Davon gehe ich aus. Vielleicht spielte der Wind eine Rolle. Aber letztlich ist das egal, das sind alles Mutmassungen. Niemand hat wirklich gesehen, was passiert ist.» Dann blickt Mäder nach unten, dorthin, wo sein Sohn gefunden und reanimiert wurde. «Gino lag dort unten im Bach, er …» Mäder führt den Satz nicht aus, meint nur: «Es ist einfach ein Scheiss.»

«Das ist kein gefährlicher Ort»

Schuld gibt Mäder niemandem. Die ausstehenden Ergebnisse der Bündner Staatsanwaltschaft, die den Unfall untersucht, interessieren ihn nicht. «Sie werden Gino nicht zurückbringen.» Sicher ist: Die kurzfristigen Massnahmen der Tour-de-France-Organisatoren, die nach Ginos Tod bei Abfahrten Polster installiert haben, findet er gut. Aber er gibt auch zu bedenken: «Hier, wo Gino starb, wäre es nicht möglich gewesen, so etwas zu tun. Das ist kein gefährlicher Ort.»

Vielmehr müsse man den Hebel bei den Rennen woanders ansetzen. Zum Beispiel bei unerwarteten Schwellen, die man im Peloton einfach nicht sehen könne. Oder bei abfallenden Zielgeraden bei Sprints, die brandgefährlich seien. Und schliesslich bei Hunden, Pferden und Menschen, die plötzlich auf der Strasse auftauchen würden. «Es geht nicht darum, die Fahrer in Watte zu packen, sondern darum, offensichtliche Gefahren zu erkennen und Massnahmen zu treffen.»

Mäder weiss aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, Rennen zu organisieren. Er trainierte nicht nur seinen Sohn in dessen Jugend, sondern war immer in Vereinen aktiv. Den Grand Prix Wiedlisbach präsidierte er jahrelang. Auch heute ist Mäder im Radsport aktiv, zuletzt stellte der Versicherungsvertreter beim GP Rüebliland den Leaderpreis zur Verfügung. Er befürchtet, dass solche Wettkämpfe für den Nachwuchs künftig verschwinden könnten, wenn noch mehr Auflagen und Richtlinien durchgeboxt würden. «Genau das soll Ginos Tod nicht mit sich bringen. Das wäre verheerend.»

«Gino war immer sehr bescheiden»

Es ist mittlerweile 10.45 Uhr. Der Verkehr nimmt zu, ist an diesem Wochentag im September aber immer noch überschaubar. Einmal hält ein Polizeiauto am Parkplatz an, macht kehrt und jagt mit Blaulicht und Sirenen einem wohl zu schnell fahrenden Töff nach. Rasch kehrt wieder Ruhe ein, und Mäder erzählt von Gino als Kind. «Er war immer sehr aufgeschlossen, alle mochten ihn.» 

Das war auch in der Velogruppe so, zu der auch die heutigen Profis Marc Hirschi (25) und Johan Jacobs (26) angehörten. «Die hatten einen riesigen Spass zusammen. Gino war dabei längst nicht der Beste, vor allem Johan war überragend.»

Dennoch habe sein Sohn immer die Gabe gehabt, alles für ein Ziel zu tun. Sich zu quälen und zu schinden, ohne dabei die Freude zu verlieren. «Gino war immer sehr bescheiden. Er wusste genau, dass der Sport, den er ausübte, die allermeisten Menschen gar nicht kümmerte.» Das sei selbst nach seinem fünften Platz an der Vuelta 2020 so gewesen, als Mäder die Nachwuchswertung gewann und als grosse Entdeckung gefeiert wurde.

Ginos letztes Wort: «Danke!»

Seinen letzten Kontakt mit Gino habe er am Abend vor seinem Unfall gehabt, erzählt Mäder. Und zwar kurz nach dessen Auftritt im «Veloclub», einer SRF-Talksendung. Damals wurde Gino in Leukerbad VS darauf angesprochen, dass sein Zeitrückstand wohl zu gross sei, um die Rundfahrt zu gewinnen. Er meinte: «Aber nächstes Jahr gibt es wieder eine Tour. Dann versuche ich es erneut, vielleicht klappts ja.» Ebenfalls ein Thema war die Spekulation, dass er zum neuen Schweizer Team Tudor zu wechseln könnte.

Gino gab sich bedeckt, wollte den Schritt aber machen, wie man später erfuhr. «Erst habe ich das Ganze kritisch gesehen, weil Tudor noch nicht in der World Tour, also der höchsten Kategorie, ist. Doch nach und nach habe ich verstanden, warum Gino wechseln wollte. Das habe ich ihm doch noch geschrieben. Darüber bin ich im Nachhinein froh – so blieb nichts zwischen uns offen. Und ich habe ihm für das Interview, das ich sehr gut fand, gratuliert.» 

Mäder zeigt uns seine Whatsapp-Nachricht, als müsse er es selbst nochmals überprüfen. «Danke!», steht da. Der Absender: sein Sohn. Es ist ihr letzter Austausch.

«Das wäre nicht im Sinn von Gino gewesen»

Zurück an den Albula. Es ist mittlerweile kurz nach 11 Uhr. Immer wieder halten Velofahrer an, um Mäder zu gedenken. Andreas ist gerührt von der Anteilnahme, hat aber eine Bitte: «Die Leute meinen es nur lieb, es ist mega schön. Aber Trauerkerzen hinzustellen oder Bidons, macht wenig Sinn. Denn schon in wenigen Wochen wird es hier winterlich weiss sein, der Pass wird geschlossen. Und im Frühling fahren die Schneeräumungsfahrzeuge durch, und das ganze Plastik fliegt irgendwohin. Das wäre nicht im Sinn von Gino gewesen. Ihm lag der Umweltschutz schon immer am Herzen.» 

Mäder überlegt deshalb, künftig in der Nähe eine Statue, ein Denkmal zu Ehren seines Sohnes errichten zu lassen – man sei in gutem Austausch mit den Behörden.

Um 11.15 Uhr verlassen wir den Unfallort. Andreas Mäder meint: «Ich habe Gino schon als Jugendlicher gesagt: Du kannst sterben bei diesem Sport – im Training oder im Rennen.» Seinem Sohn sei dies bewusst gewesen. «Gino wollte nicht sterben. Er war kein Draufgänger. Aber hier hat er einen Fehler gemacht, der ihm das Leben gekostet hat. Es ist brutal. Aber das Leben geht weiter – es muss weitergehen.»

Vergessen wird Gino Mäder nicht.

Hier ist Gino Mäder tödlich verunglückt
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Auf Abfahrt vom Albula-Pass:Hier ist Gino Mäder tödlich verunglückt
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