Stille. Nichts als Stille. Vor dem Teambus von Bahrain-Victorious setzt sich ein Mechaniker auf den Asphalt, starrt auf den Boden. Zwei Teambetreuer umarmen sich, ein Sportlicher Leiter weint. Es ist kurz vor Mittag in einem Industrieareal in Chur. Worte braucht es in diesem Moment nicht, auch keine Medienmitteilung. Ich merke sofort: Das Schlimmste ist eingetreten, Gino Mäder ist gestorben.
Seit sieben Jahren bin ich beim Blick für den Strassenradsport zuständig. Eine so schwierige Aufgabe wie jetzt hatte ich noch nie. «Mach bitte einen Nachruf zu Gino Mäder», heisst es. Wie soll ich da vorgehen? «Schreib, was dir durch den Kopf geht», heisst es. Genau das versuche ich.
Von Gino Mäder hörte man immer: «Sehr gerne!»
Gino und ich waren nicht befreundet. Das wäre auch seltsam gewesen, unser Verhältnis war professionell. Er, der Rad-Profi. Und ich, der Journalist. Da gibt es natürlich Barrieren. Ich frage mich deshalb, warum ich derzeit dennoch einen Kloss im Hals habe, als ich diese Zeilen schreibe. Die Antwort ist einfach: Ich mochte Gino. Ob er auch mich nett fand, weiss ich nicht – es ist auch nicht wichtig.
Meistens habe ich nur kurz mit Gino gesprochen. Immer zwischen zwei und drei Minuten, jeweils vor und nach den Rennen. Wie fühlst du dich? Wie waren deine Beine? Was hast du vor? Was ist passiert? Solche Dinge. Alleine war ich nicht, auch Journalistenkollegen wollten immer etwas von ihm wissen. Weil er einer der besten Schweizer Rad-Profis war, klar. Aber auch, weil Gino immer etwas zu sagen hatte. Er war stets ehrlich, direkt und freundlich. Mir fiel irgendwann einmal auf, dass Gino häufig das Gleiche sagte, nachdem man sich für das Gespräch bedankt hatte: «Sehr gerne!» Nun kann man dies als banal abtun. Im Fall von Gino war es das nicht – er meinte seine Worte auch so. Im Gespräch mit ihm hatte man nie das Gefühl, dass ihm der Gegenüber egal war. Er respektierte alle – im Sport, aber auch daneben. Ich kenne niemanden, der je ein schlechtes Wort über ihn verlor.
Über Gott und die Welt reden war einfach mit ihm
Besonders in Erinnerung bleibt mir ein längeres Treffen mit Gino. Es fand im Mai 2022 statt. Der Fotograf und ich trafen ihn auf einem Parkplatz im liechtensteinischen Triesenberg. 12 Grad, Nieselregen. Wir hatten abgemacht, ihn bei der Besichtigung des Aufstiegs nach Malbun zu begleiten. Oben angekommen, folgten Fotos mit einem Steinadler auf dem Arm. Die Schlagzeile vor der Tour de Suisse lautete später: «Er ist der Schweizer Rad-Überflieger. Krallt sich Gino Mäder den Gesamtsieg?»
Gino war beeindruckt vom Adler, wollte vom Falkner allerlei über das Tier wissen. Irgendwann sagte er zum Fotografen: «Ich kann langsam nicht mehr, der Adler ist ziemlich schwer. Das ist für mich wie ein Workout, ich habe schliesslich dünne Velofahrer-Arme. Dauert es noch lange?»
Im angrenzenden Restaurant diskutierten wir über Gott und die Welt. Das war mit Gino einfach, er machte sich viele Gedanken über den Rad-Tellerrand hinaus. Er mochte Goethe und Zahlen, sammelte Geld für den Naturschutz und verriet mir, dass er lieber zum Zahnarzt als zum Coiffeur gehe. Warum Gino so offen sprach? Er hätte die Frage nicht verstanden – Gino sagte einfach, was er dachte.
Gino ist jetzt beim Adler
Vor wenigen Tagen fragte ich ihn, wie er das Verpassen des Giro d’Italia wegen seiner Corona-Erkrankung verdaut habe. Und wie er damit umgeht, dass er die Gesamtwertung der Tour de Suisse auch diesmal kaum gewinnen wird. «Klar ist das enttäuschend. Andere sind besser. Aber ich freue mich, hier zu sein und geniesse die Rennen in der Heimat. Und soviel ich weiss, wird es im nächsten Jahr erneut einen Giro und eine Tour de Suisse geben. Dann versuche ich es einfach wieder», meinte er schmunzelnd. Die Gewissheit, dass Gino genau dies nicht mehr tun kann, schmerzt ungemein.
Und dann habe ich plötzlich doch noch einen Gedanken, der mir etwas Trost spendet: Dass Gino jetzt dort ist, wo sich auch der Adler aus Malbun am wohlsten fühlt – im Himmel. Ciao, Gino!