Die Leiden des WM-Balles
«Finger weg von mir, ihr schmierigen Funktionäre!»

Sein Leben ist schmerzvoll und flatterhaft. Die Sorgen und Nöte des WM-Balls sollte man ernst nehmen. Die Kolumne von Reporter Felix Bingesser.
Publiziert: 27.11.2022 um 19:05 Uhr
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Felix Bingesser schreibt über die Leiden des Balles.
Foto: Thomas Meier

Es wird über alles geredet in diesen Wochen. Nur über mich nicht. Dabei bin ich doch das Wichtigste. Ohne Fifa, ohne Katar, ohne Scheichs, ohne Geld kann man immer Fussball spielen. Ohne mich geht aber gar nichts.

Ich heisse «Al Rihla». Das bedeutet in der arabischen Sprache «Die Reise». Meine kräftigen, leuchtenden Farben sollen die Kultur von Katar spiegeln. Ich bin ein nahtloses Geschöpf und wurde im Windkanal und in Labors getestet. Ich kann schneller fliegen als jeder andere Ball der WM-Geschichte.

Mein Schicksal ist nicht immer ganz einfach. Wenn ich im Netz zapple, holt mich einer raus und schmettert mich wütend auf den Boden. Wenn ich dann schon gestresst bin, steckt mich ein anderer Witzbold noch unter sein schweissiges Trikot. Nur, weil seine Frau daheim schwanger auf dem Sofa sitzt. Was geht mich das an?

Zumal: Alle werden fürstlich entlöhnt. Nur ich mache meinen Job aus Idealismus. Aus Liebe zum Ball. Also zu mir selbst. Das Runde sollte ja ins Eckige. Dort lande ich wenigstens weicher als am Pfosten oder an der Latte.

Meine Seele hat sich nicht verändert. Meine Kleidung schon. Früher hatte ich eine dicke Lederhaut. Und hatte bei Regen schnell mal das Dreifache meines Körpergewichts. Mit locker und beschwingt Durch-die-Luft-Fliegen war es dann vorbei.

Heute trage auch ich Funktionsbekleidung. Atmungsaktiv und wasserresistent. Und man hat so lange an mir herumgetüftelt, dass ich manchmal selber nicht mehr weiss, wohin ich fliege. Derart flatterhaft ist mein zuvor seriöses und berechenbares Leben geworden.

Aber eben, mein Schicksal ist nicht immer einfach. Ruhige Zeiten gibt es selten. Und wenn die Luft mal ein wenig raus ist und ich auf eine Ruhephase hoffe, dann kommt schon der Materialwart mit der Pumpe. Und ich weiss nicht, ob es andere Geschöpfe gibt, die ihr Leben lang permanent einen «Tschutt in den Hintern» kriegen.

Aber am meisten ärgert es mich, wenn mich die Funktionäre mit ihren schmierigen Fingern in die Hand nehmen und triumphierend in die Kamera halten. Dann ist mir noch lieber, wenn sich ein Ersatzspieler eine Weile auf mich setzt. Bis ich zu platzen drohe.

Hier in Katar bin ich einer der geduldeten, rechtelosen und wenig wertgeschätzten Arbeitsmigranten. Viel lieber wäre ich jetzt mit den Kindern dieser Welt auf einem Bolzplatz, in einem Hinterhof oder auf einem Schulhausplatz.

Oder an einem Strand in Brasilien.

Aber ich muss auch jetzt gute Miene zum bösen Spiel machen. Das kann auch ermüden. Gerade in diesen Zeiten fühle ich mich nicht immer gut. Man könnte sagen: Today I feel tired. Today I feel angry. Today I feel disgusted.

Das sind meine eigenen Worte. Das hat nichts mit der bizarren Rede meines obersten Chefs Infantino zu tun. Diese Rede hat er übrigens dem ehemaligen New Yorker Gouverneur Andrew Cuomo nachgeplappert.

Einem Mann, der mit schmierigen sexuellen Belästigungen Schlagzeilen gemacht hat.

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