Es ist ein Tag im Februar 2017. Wir sind mit Roger Federer in einem Hotel in Valbella zum Interview verabredet. Federer fährt vor, lässt die Scheiben runter und fragt: «Gibts hier noch irgendwo einen Parkplatz?». «Wohl alles besetzt», antwortet die Blick-Crew.
Federer wendet, fährt durchs Quartier. Und kommt fünf Minuten später wieder anmarschiert. «Im Dorf vorne habe ich noch was gefunden», sagt er. Dann begrüsst er die beiden Rezeptionistinnen per Handschlag. Und erkundigt sich nach ihrem Befinden.
Andere von seinem Status würden das Auto vor dem Hotel abstellen. Und an der Rezeption wortlos den Schlüssel deponieren.
Federer wollte es anständig schaffen
Es sind diese Details und diese kleinen Episoden, die den Charakter des Menschen zum Ausdruck bringen. Man kann nicht permanent und immer eine Rolle spielen. Der Alltag entlarvt jeden.
Er solle auch mal böse und aggressiv sein. Ein Killer auf dem Platz. Hat man ihm am Anfang der Karriere geraten. «Ich wollte diese Rolle nie spielen. Ich wollte normal sein und es auf dem anständigen Weg schaffen», sagt er dazu.
Nie zuvor wurde ein Sportler würdiger, stilvoller und emotionaler im Kreis seiner Familie und seiner Rivalen verabschiedet. Hollywood hätte das Drehbuch für die Federer-Dernière in London nicht besser schreiben können.
Selbst Djokovic zeigt sich menschlich
Wer noch Zweifel hatte, ob Federer tatsächlich zu den grössten Sportlern der Geschichte gehört – sie sind ein letztes Mal ausgeräumt. Dass ihn seine ärgsten Rivalen so viel Tribut und Anerkennung und wehmütige Tränen geschenkt haben, ist aussergewöhnlich. Selbst Novak Djokovic hat seine menschliche Seite gezeigt und sein etwas ramponiertes Image damit aufpoliert.
Nicht nur die Fans und Rivalen spüren, dass Anstand und Respekt für Federer keine in der Öffentlichkeit formulierten Worthülsen sind. Sondern gelebte Tugenden. Wer bei seinen Eltern am Stubentisch in ihrem Einfamilienhaus Kaffee trinken darf, der spürt, woher das kommt. Vom schnurrbärtigen gemütlichen Vater Robert in seinen klassischen Schweizer Finken. Und von der quirligen, bestimmten und durchorganisierten Mutter Lynette.
Der Lobeshymnen gab und gibt es genug. Dem einen oder anderen mag es vielleicht etwas zu viel Pathos gewesen sein. Und trotzdem ist jedes Wort verdient.
An der Fassade zu kratzen versuchte einzig das Magazin der Neuen Zürcher Zeitung. «Sollte Federer sich besser outen?» ist der Titel des Online-Beitrages. Und es wird die Frage aufgeworfen, ob ein heterosexueller Mann einen so guten Geschmack haben kann. Wie bitte?
Dafür, dass er ein herausragender Sportler, eine tolle Persönlichkeit, ein guter Geschäftsmann und ein guter Familienvater ist, dafür muss er sich nicht outen. Das wissen wir. London, das war eine Sternstunde für die Schweiz. Vielleicht gibt es das Märchenhafte, liebe Neue Zürcher Zeitung.