«Die Granate, die dich tötet, die hörst du nicht», ruft Vanya, der ukrainische Soldat, der neben mir in unserem Versteck an der Donbass-Front kauert. «Die Dinger fliegen schneller als der Schall. Wenn es zischt und knallt, sind sie längst vorbeigesaust.» Vanya will mich beruhigen. Es gelingt ihm nicht.
Das Knallen, der Gestank, die leuchtenden Schweife der Raketen in der Nacht – und dann die unfassbare Nachricht über einen russischen Trupp, der einen gefangen genommenen Ukrainer ganz in der Nähe kastriert und geköpft haben soll: Sie machen meinen ersten Reportereinsatz an der Ostfront des Ukraine-Kriegs im Sommer 2022 zum Stresstest.
Und doch reise ich danach mit schusssicherer Weste und Blick-Mikrofon immer wieder ins Kriegsgebiet. Besuche frisch befreite Dörfer, in denen die Menschen alles verloren haben. Interviewe russische Kriegsgefangene in einem geheimen Lager, die mir wirre Geschichten über die angebliche Nazi-Regierung in Kiew auftischen. Verstecke mich bei Bachmut unter einer Buche vor Späherdrohnen, die den Grad-Raketenwerfer unmittelbar neben mir ausfindig machen wollen, der zuvor fünf Raketen auf russische Stellungen abgefeuert hat. Der Wumms: gewaltig.
Zeuge zu sein vom Wahnsinn, der die Welt an so manchem Ort befällt, ist ein hartes Privileg. Allzu schnell vergessen wir in unseren heilen Breitengraden, wie sehr unweit von hier alles im Argen liegt. Hinschauen, hinhören, die Schlacht riechen, das Leid spüren und alles einigermassen knapp und knackig formuliert in die geheizte Zentrale in Zürich schicken: Das ist das Ziel, das eine ganze Reihe von Blick-Kriegsreportern vor Augen hatte.
Ende der 1960er-Jahre berichtete der spätere Blick-Chefredaktor Peter Balsiger als Reporter direkt aus Vietnam und war beim Sturm der 1. US-Kavallerie-Division auf das von nordvietnamesischen Truppen eroberte Camp Lang Vei dabei. Später reiste Carl Just im Auftrag von Blick in den Irak, den Iran, den Libanon. Eben erst wagte sich Helena Schmid als Kriegsreporterin mit der ukrainischen Armee in das von Kiews Truppen eroberte russische Gebiet Kursk.
Krieg hat Hochkonjunktur. Er ist grausam – und faszinierend, weil er Geschichten schreibt, die erschüttern und berühren. Die alte Ukrainerin, die mir in Donezk unbeeindruckt vom Raketendonner einen Schnitz Wassermelone über den Gartenzaun reicht, die junge Soldatin, die mir von Sexorgien in den Donbass-Bunkern erzählt («jede Nacht könnte die letzte sein»), die israelische Mutter, die mir das Lied vorsingt, das sie ihrer neugeborenen Tochter acht Stunden lang ins Ohr summte, damit das Baby nicht weinte und das Versteck im Kibbuz Nir Oz den Hamas-Terroristen draussen nicht verriet: Sie werden mich für immer begleiten.
Jetzt, im Herbst 2024, hören wir erste Erzählungen über Roboter-Kampfmaschinen an der ukrainischen Front. Die intelligenten Maschinen machen auch vor dem Krieg nicht halt. Wird KI uns vom ersten Roboterkrieg der Geschichte berichten und uns Kriegsreporter überflüssig machen? Vielleicht. Angst vor den vorbeifliegenden Granaten hätte der künstliche Kriegsreporter kaum. Genau deshalb werden seine Storys über den Krieg ihr Ziel weit verfehlen.
Vor 65 Jahren sorgte eine Zeitung für Bewegung in der Schweizer Medienlandschaft, ja bewegte die Schweiz. Blick hat damit bis heute nicht aufgehört – weil er selbst immer in Bewegung bleibt.
Dieser Artikel und 64 weitere sind Teil der Jubiläums-Beilage. Ein Geschenk an unsere Leser: Sie steckt am Samstag (19. Oktober) in jedem Blick und am Sonntag (20. Oktober) im SonntagsBlick – und hier gibt es die Beilage als PDF zum Download.
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