«Wer könnte mir helfen?» Diese Frage stellt sich Manuela Leemann (40) jedes Mal, wenn sie Zug fährt. Die Eingänge seien relativ ebenerdig – doch den Spalt zwischen Perron und Waggon schaffe sie mit dem Rollstuhl nicht alleine, sagt sie. Deshalb hält die Rechtsanwältin aus der Stadt Zug jeweils nach jemandem Ausschau, der keine Kopfhörer in den Ohren und wenig Gepäck trägt. Das schränke die Auswahl ein. «Die Schweizer sind hilfsbereit», sagt Leemann. Sie selbst habe lange Zeit Mühe damit gehabt, andere um Hilfe zu bitten. «Ich musste das zuerst lernen.»
Sie sitzt an einem Holztisch in ihrer Wohnung. Vor ihr eine Tasse Tee, in der ein Strohhalm steckt. Etwas greifen kann die Tetraplegikerin nur, wenn sie ihr Handgelenk anspannt. Als 16-Jährige stiess ihr Kopf bei einem Stafettenlauf so unglücklich an einem Hindernis an, dass der fünfte Halswirbel brach. Seither sind ihre Beine gelähmt. Genauso ihre Arme, die Leemann jedoch mit dem Bizeps anheben und ihren Rollstuhl so in Bewegung setzen kann. Ein Elektromotor unterstützt die Räder wie bei einem E-Bike.
Kira ist seit neun Monaten auf der Welt
Hier, in ihrer Wohnung in einer modernen Überbauung gleich neben dem Bahnhof, hat es alles, was eine Bewohnerin mit einem Rollstuhl braucht. Schiebetüren zum Beispiel. Und natürlich einen Lift. Aus einem der Zimmer ist ein vergnügtes Quietschen zu hören. Dort spielt Kira mit Leemanns Ehemann. Vor neun Monaten wurden die beiden erstmals Eltern. Seit zwanzig Jahren sind sie zusammen. Er sitzt nicht im Rollstuhl und kümmert sich im Moment Vollzeit um die gemeinsame Tochter. Manuela Leemann arbeitet für den Kanton Zug als Leiterin des Rechtsdiensts der Direktion des Innern.
Weihnachten steht für Gemeinschaft. Doch die bricht gerade auseinander – oder doch nicht? In dieser Serie erzählen neun Menschen unterschiedlichster Herkunft und Haltung, was für sie Gemeinschaft ausmacht. Die Antworten geben Anlass zur Hoffnung.
* Name der Red. bekannt
Weihnachten steht für Gemeinschaft. Doch die bricht gerade auseinander – oder doch nicht? In dieser Serie erzählen neun Menschen unterschiedlichster Herkunft und Haltung, was für sie Gemeinschaft ausmacht. Die Antworten geben Anlass zur Hoffnung.
* Name der Red. bekannt
Dass nicht jeder nur an sich selbst denke – das mache für sie eine Gemeinschaft aus, sagt Leemann. Solidarität liege ihr umso mehr am Herzen, weil sie, seit sie 16 ist, darauf angewiesen sei. Dazu gehöre auch, dass die Invalidenversicherung für den Umbau ihres Autos oder für Anpassungen an ihrem Arbeitsplatz aufkomme, dass ihr die Spitex jeden Tag beim Aufstehen helfe oder sie bei Bedarf ein Tixi in Anspruch nehmen könne.
Aha-Erlebnis beim Auslandjahr in Australien
Ihren beruflichen Weg hätte sie ohne die Unterstützung ihrer Eltern nicht machen können, sagt Leemann. Ihr Vater ist Arzt, ihre Mutter war Hauswirtschaftslehrerin. Leemann hat drei Geschwister. Nach dem Gymnasium zog sie erstmals von zu Hause weg, um in Freiburg Recht zu studieren. «Ich kannte dort niemanden.» Im Hörsaal musste sie wildfremde Menschen fragen, ob sie ihr die Jacke ausziehen und ihr Block und Stifte aus dem Rucksack nehmen könnten. «Dass ich vereinsame, könnte mir nicht passieren. Weil ich Hilfe benötige, bin ich immer mit Menschen in Kontakt.»
Wie viel einfacher das Leben für Personen mit Behinderung sein könnte – aber auch für Familien mit kleinen Kindern und für ältere Menschen –, fiel ihr erstmals bei einem Auslandjahr während ihres Nachdiplomstudiums in Australien auf. In der Schweiz habe sie immer alles abklären müssen, bevor sie irgendwohin ging. «Wie sieht es dort mit dem Trottoir aus, ist die Tür breit genug? Solche Sachen.» In Brisbane sei sie mit dem Rollstuhl plötzlich überallhin gekommen. «Ich konnte jedes Restaurant besuchen und sogar spontan das Schiff nehmen.»
Das bedeutet für andere Menschen Gemeinschaft
Dass die Situation in Australien so anders ist, liege unter anderem daran, dass die Häuser viel neuer seien, sagt Leemann. Doch auch die Gesetzgebung sei anders. In Australien müssen alle öffentlich zugänglichen Gebäude hindernisfrei sein, sofern es verhältnismässig ist. «Bei uns gilt das nur für Neubauten und Häuser, die renoviert werden.»
Liegt es an ihrem Rollstuhl? Oder daran, dass sie eine Frau ist?
Ein weiterer Grund dafür, dass es Behinderte in Australien leichter haben, seien die Kriegsversehrten, die es in der Schweiz nicht gebe, sagt Leemann. Schlussendlich gehe es um Sichtbarkeit. «Je mehr Menschen mit sichtbaren Behinderungen im Alltag unterwegs sind, desto eher sieht die Öffentlichkeit die Notwendigkeit, etwas für sie tun zu müssen.» Als Mitglied des Gemeinderats der Stadt Zug, wo sie für die Mitte-Partei politisiert, setzt sich Leemann deshalb für mehr Hindernisfreiheit in der Schweiz ein.
Hat sie denn auch schon schlechte Erfahrungen gemacht als Behinderte in der Schweiz? Ganz selten komme es vor, dass jemand in einem Restaurant mit ihrem Mann über ihren Kopf hinweg rede, sagt Leemann. Prinzipiell kriege auch immer er die Rechnung hingelegt. «Ich weiss aber nicht immer, ob es damit zu tun hat, dass ich im Rollstuhl sitze oder eine Frau bin», sagt sie und lacht. «Vielleicht mit beidem.»