«Miteinander und füreinander da sein»
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Das Bedeutet Gemeinschaft:«Miteinander und füreinander da sein»

Autorin Melinda Nadj Abonji
«Das grösste Glück ist, wenn mich ein Gespräch grundlegend verändert»

Die Werke von Melinda Nadj Abonji (53) wurden mehrfach ausgezeichnet. Als erste Schweizer Autorin gewann sie den Deutschen Buchpreis. Wir haben gefragt, wann sie die Gemeinschaft spürt, wie schwer es ist, Teil der Schweiz zu werden, und wie gefährlich Sprache sein kann
Publiziert: 18.12.2021 um 10:53 Uhr
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Aktualisiert: 03.01.2022 um 16:58 Uhr
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Die Schweizer Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji (53) ist während des Interviews in Quarantäne. Ausgeschlossen von der Gemeinschaft fühlt sie sich trotzdem nicht.
Foto: Thomas Meier

Frau Nadj Abonji, für dieses Gespräch sitzen wir beide in unterschiedlichen Zimmern und starren in unsere Laptops. Fühlt sich das trotzdem nach Gemeinschaft an?
Melinda Nadj Abonji:
Ja, obwohl man nur einen Teil des Menschen erlebt. Neulich habe ich jemanden über Zoom kennengelernt. Er wirkte kräftig und bestimmt. Als ich ihn danach persönlich traf, wirkte sein Körper sehr zerbrechlich. Und das meine ich nicht negativ.

Sie sind gerade in Quarantäne. Fühlen Sie sich von der Gemeinschaft ausgeschlossen?
Im Gegenteil, ich bin gerne mit den Buchstaben alleine. Wenn ich mich zu Hause mit Büchern und Texten befasse, erlebe ich das als Gemeinschaft, als Verbindung zur Welt.

Mit fünf Jahren kamen Sie aus dem damaligen Jugoslawien in die Schweiz. Wie schwer ist es, Teil der Schweizer Gemeinschaft zu werden?
Das kommt darauf an, wer man ist. Ist man reich, ist man willkommen. Aber meine Eltern hatten nichts, dann ist es sehr schwierig. Für mich sah die Situation anders aus, ich bin hier aufgewachsen und konnte hier studieren. Doch ich erinnere mich gut daran, wie traumatisch es war, mich am Anfang nicht verständigen zu können und nicht verstanden zu werden.

In einer Szene Ihres Romans «Tauben fliegen auf» ist Ildikó, die Protagonistin, gerade aus Serbien in der Schweiz angekommen und geht mit ihrer Grossmutter spazieren. Die beiden verlaufen sich und finden nicht mehr nach Hause. Weil niemand sie versteht.
Richtig. Die Grossmutter sagt «Todistrasse» anstatt «Tödistrasse». Ein minimaler Unterschied. Doch manchmal braucht es sehr wenig, und wir sind komplett verloren in der Welt. Bei meinen Eltern habe ich ein Leben lang gesehen, wie schnell man abgewertet wird, nur weil man eine Sprache nicht perfekt spricht. Wer mehrsprachig aufwächst, ist sensibilisiert für diese Art von demütigender Verlorenheit.

Sind Sie dadurch zur Literatur gekommen?
Ja, als Kind waren Bücher mein Weg, aus dem Schweigen heraus zu einer neuen Sprache zu finden. Sich nicht verständigen zu können, kann auch eine enorme Kraft freisetzen. Man merkt, was Sprache überhaupt mit einem macht, wie stark sie einen definiert.

Was hält uns noch Zusammen?

Weihnachten steht für Gemeinschaft. Doch die bricht gerade auseinander – oder doch nicht? In dieser Serie erzählen neun Menschen unterschiedlichster Herkunft und Haltung, was für sie Gemeinschaft ausmacht. Die Antworten geben Anlass zur Hoffnung.

Aleksander Radaca*

Melinda Nadj Abonji

Manuela Leemann

Tama Vakeesan

Ralph Lewin

Jessica Anderen

Hernâni Marques

Ewa Bender

Thomas Markus Meier

* Name der Red. bekannt


Weihnachten steht für Gemeinschaft. Doch die bricht gerade auseinander – oder doch nicht? In dieser Serie erzählen neun Menschen unterschiedlichster Herkunft und Haltung, was für sie Gemeinschaft ausmacht. Die Antworten geben Anlass zur Hoffnung.

Aleksander Radaca*

Melinda Nadj Abonji

Manuela Leemann

Tama Vakeesan

Ralph Lewin

Jessica Anderen

Hernâni Marques

Ewa Bender

Thomas Markus Meier

* Name der Red. bekannt


Stärker als Landesgrenzen?
Die Landschaft der Vojvodina im heutigen Serbien gehört zu meinen prägendsten Kindheitserinnerungen. Doch das hat nichts mit einer Nation an sich zu tun. Mein Herkunftsland wurde durch einen unfassbar blutigen Bürgerkrieg zerstört. Dadurch wird man viel vorsichtiger gegenüber allen nationalen Identitäten und weiss, dass sie immer ideologisch geformt sind. Ich definiere mich deshalb nicht über Nationalitäten, sondern viel eher über die Sprache und die Menschen, mit denen ich mich wohlfühle.

Mit dem Zerfall Jugoslawiens wurden Nachbarn zu Feinden. Lässt sich das mit der Corona-Situation vergleichen?
Durchaus. Krisen – bis hin zu Kriegen – entstehen nicht aus dem Nichts. Die gesellschaftlichen Konflikte schwelen bereits vor Ausbruch unter der Oberfläche. An der Sprache lässt sich ablesen, wie sich der Konflikt verschärft und der Hass sprachlich kontinuierlich geschürt wird.

Also kann Sprache die Gemeinschaft zerstören?
Wir vernachlässigen die Sprache, weil wir uns gar nicht richtig bewusst sind, was wir mit ihr anrichten. Dabei ist sie niemals neutral. Sprache bedeutet immer eine Wertung, und sie erschafft die Bedingungen für unsere Handlungen. Ist man sich als Politikerin dieser Verantwortung nicht bewusst oder missbraucht sie, richtet man enormen Schaden an.

Zum Beispiel?
Statt an die Verantwortung appellierte man seit Pandemiebeginn an die Eigenverantwortung. Ein fataler Fehlgriff. Zum einen ist der Begriff manipulativ, weil er von der Verantwortung ablenkt, die die politischen Entscheidungsträger tatsächlich innehaben. Zum andern fokussiert die neoliberal geprägte Eigenverantwortung das Individualistische, überhöht die eigene Entscheidung. Während einer Pandemie ist aber das Gegenteil notwendig und überlebenswichtig.

Die Verantwortung für die Gemeinschaft.
Genau. Die Verantwortung als Bürgerin wahrzunehmen, bedeutet, gemeinschaftlich zu denken und zu handeln im Wissen, dass man selber immer auch eine Zumutung ist für die Mitmenschen. Man hätte also in der Pandemie mittels präziser Wortwahl viel eher den Gemeinsinn und die Gemeinschaft stärken sollen. Ein grundsätzliches Problem ist dabei, dass wir davon ausgehen, dass wir vom Gleichen sprechen. Doch tun wir das fast nie. Wir benutzen grosse Worte wie Freiheit oder Demokratie oder eben Verantwortung, doch definieren wir sie alle komplett unterschiedlich, ohne uns dessen bewusst zu sein.

Was bräuchte es, damit wir uns besser verstehen?
Es wäre enorm wichtig, diese Begriffe genau zu definieren, bevor man ein Gespräch beginnt, vor allem in Krisensituationen. Nur so schafft man es, nicht aneinander vorbeizureden oder sich zu verletzen. Das braucht viel Energie.

Inwiefern viel Energie?
Weil es die generelle Frage aufwirft, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen. Ob Klimakrise oder Corona: Es ist entscheidend, wie wir von hier aus weitergehen wollen. Opfern wir Menschenleben, bloss weil sie über 80 sind? Wie wollen wir weiterleben auf einem Planeten, dessen Ressourcen wir bereits sträflich geplündert haben?

Das klingt tatsächlich anstrengend.
Eine Krise bedeutet, dass das, von dem wir angenommen haben, es stehe uns zu, erschüttert wird. Besonders in der Pandemie halten wir krampfhaft an der Illusion fest, dass bald alles wieder normal wird. Dabei ist die Prämisse unserer Gesellschaft, wir hätten ein Recht auf endlosen Genuss und ein privilegiertes Leben, grundlegend falsch. Wir sind in einer Sackgasse, in der es nicht so weitergehen kann. Diese Diskussion können wir nicht länger aufschieben.

In welchen Momenten spüren Sie die Gemeinschaft?
Zum Beispiel im Gespräch mit meinem Mann. Der Dialog zwischen zwei Menschen ist auf Dauer nur möglich, wenn er lebendig und warm bleibt. Das ist Arbeit und braucht Pflege. Für mich ist es das grösste Glück, wenn mich ein Gespräch grundlegend verändert. Schliesslich möchte ich leben, um dazuzulernen und anderen Menschen im Gegenzug etwas mitzugeben. Nur, wenn dieser warme, lebendige Dialog in die grössere Gemeinschaft hinausgetragen wird, kann auch dort ein gemeinsamer Nenner gefunden werden.

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