«Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Wenn wir aufhören, uns zu begegnen, ist es, als hörten wir auf zu atmen.» Zwei Sätze bloss, vom grossen jüdischen Philosophen Martin Buber, und trotzdem steckt alles drin, was man übers Leben wissen muss. Auch wir wollen an diesem trüben Novembertag einem Mann begegnen, der weiss, was eine Gemeinschaft zusammenhält: Ralph Lewin (68), Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG).
Er empfängt uns vor der grossen Synagoge in Basel. Mitten in der Chanukka-Zeit, dem Lichterfest, das an die Wiedereinweihung des zweiten Tempels in Jerusalem vor über 2000 Jahren erinnert. Im Raum, in den er uns führt, steht ein mehrarmiger Leuchter, eine Chanukkia. An jedem der acht Feiertage zündet man eine Kerze mehr an, bis am letzten Tag alle brennen. Ralph Lewin ist nicht sehr religiös, meist nur an hohen Feiertagen in der Synagoge. Aber: Das Judentum sei mehr als eine Religion. «Es ist eine Identität, die ich nicht abstreifen kann und auch nicht will.»
Er nahm sich nicht als anders wahr
18’000 Juden leben in der Schweiz. Eine kleine Minderheit, die verfolgt wurde, sich immer wieder in einer Mehrheitsgesellschaft behaupten musste und muss. Das hallt im Jetzt in Basel nach: Draussen wachen Kameras und Security-Männer über die Synagoge.
Herr Lewin, wie fühlen Sie sich als Jude in der Schweiz?
«Ich spürte früh, dass wir zu Hause andere Bräuche und Rituale pflegten. Aber als Mensch nahm ich mich nie anders wahr.»
Lewin war lange im jüdischen Jugendbund Emuna aktiv, vor fast genau fünfzig Jahren lernte er dort seine spätere Frau Paula kennen. Oft war das Judentum in seinem Leben aber auch gar nicht so entscheidend. Er spielte in einer Schülerband Begleitgitarre, war Präsident des Schülerparlaments, studierte später Nationalökonomie, machte in der SP Karriere. Zwölf Jahre lang war er Basler Regierungsrat – dass er Jude ist, war in der Öffentlichkeit kein Thema. Bis er letztes Jahr SIG-Präsident wurde.
Wie hat Sie die Zugehörigkeit zum Judentum geprägt, Herr Lewin?
«Ich hatte immer schon ein Bewusstsein dafür, dass man mit Minderheiten sorgfältig umgehen muss.» Seine Eltern gaben ihm mit: Gehe vorurteilsfrei auf Menschen zu. «Jeder einzelne Mensch ist anders, eigen», sagt er.
Ein Schicksal zieht sich durch die Gemeinschaft
Erkenntnisse erlangt man durch Erfahrung. Durch Familiengeschichte. 1905 wanderte Ralph Lewins Grossvater aus dem heute weissrussischen Grodno nach St. Gallen aus. Als Juden im Zarenreich verfolgt wurden. Damals gab es in Grodno 33 Synagogen, heute noch eine. Schlimm traf es auch die Familie von Ehefrau Paula: Ihre Grosseltern wurden von Nazi-Kollaborateuren in Rumänien ermordet.
Schicksale wie diese ziehen sich durch die jüdische Gemeinschaft. Das verbindet. Und doch ist sie heterogen. Das zeigt sich schon bei den Matzeknödeln, der Suppeneinlage bei Feiertagsessen: 100 Familien, 100 Rezepte. Lewin aber muss alle zusammenhalten: Die Streng-Religiösen, die Modern-Orthodoxen und die Säkularen, die ihr Leben unterschiedlich stark nach den 613 jüdischen Geboten und Verboten ausrichten.
Weihnachten steht für Gemeinschaft. Doch die bricht gerade auseinander – oder doch nicht? In dieser Serie erzählen neun Menschen unterschiedlichster Herkunft und Haltung, was für sie Gemeinschaft ausmacht. Die Antworten geben Anlass zur Hoffnung.
* Name der Red. bekannt
Weihnachten steht für Gemeinschaft. Doch die bricht gerade auseinander – oder doch nicht? In dieser Serie erzählen neun Menschen unterschiedlichster Herkunft und Haltung, was für sie Gemeinschaft ausmacht. Die Antworten geben Anlass zur Hoffnung.
* Name der Red. bekannt
Wie machen Sie das, Herr Lewin?
«Wir suchen zusammen einen gemeinsamen Nenner.» Es wird diskutiert. Und man findet sich, wenn es um Sicherheit und Antisemitismus-Prävention geht. Oder um die Vermittlung der jüdischen Kultur. Oft berichteten die Medien nur übers Judentum, wenn es um Antisemitismus, um den Holocaust gehe, sagt er. «Über unsere Kultur ist wenig bekannt.»
Zu ihr gehört die Klallarbeit, das gemeinnützige Engagement in der Gemeinde. «Meine Mamme erledigte bis ins hohe Alter für eine blinde Frau die Einkäufe und besuchte Kranke», sagt Lewin. Das sei nicht ungewöhnlich und mache eine Gemeinschaft aus. «Man schaut zueinander.»
Mehrheiten suchen – und finden
Wie steht es um den sozialen Kitt in unserem Land, wenn nun wieder mehr antisemitische Verschwörungstheorien kursieren?
«In der Schweiz federt die Mentalität einiges ab. Wir haben meist einen rücksichtsvollen Umgang miteinander.» Dazu passe die Konsenskultur. Als Politiker habe er sich nie mit 50,1 Prozent der Stimmen für ein Anliegen zufriedengegeben. Er suchte klarere Mehrheiten. Das sei typisch für die Schweiz.
Und doch gibt es ein Aber. Lewin sagt, die meisten hierzulande hätten noch nie bewusst mit einer jüdischen Person Kontakt gehabt. «Es bestehen Vorurteile.» Mit dem Projekt Likrat, der Aufklärung an Schulen, hat der SIG schon länger einen Schritt getan. Jetzt ist es an uns allen, den nächsten zu machen. Mit den Worten von Ralph Lewin, im Sinne von Martin Buber: «Es braucht mehr Begegnungen.»