Ich fand das Foto in einer Onlinedatenbank. Kurz bevor meine Kollegen Balz Spörri, René Staubli und ich unser Manuskript zum Buch «Die Schweizer KZ-Häftlinge» dem Verlag abgeben mussten. Dutzende Bilder von Schweizer Holocaustopfern hatte ich schon gesichtet und archiviert. Jedes einzelne berührte mich. Plötzlich wurde der Mensch hinter dem Namen sichtbar. Dieses Bild aber traf mich mit einer Wucht wie keines zuvor.
Es zeigt eine Frau, die ihr Baby auf dem Arm trägt und in die Kamera lächelt. Scheu und voller Liebe für ihren Buben. Auch der Säugling mit den Pausbacken schaut einen direkt an. Mit ernsthafter Neugier, hat man das Gefühl. Das Foto zeigt alles, was Leben ausmacht.
Es ist das Bild der Schweizerin Lea Berr und ihres Sohnes Alain. Etwa ein Jahr nach der Aufnahme wurden die beiden am 28. Februar 1944 mit anderen jüdischen Menschen im französischen Nancy verhaftet, nach Auschwitz deportiert und ermordet. Lea Berr war 30 Jahre alt, Alain noch keine zwei.
Über 700 KZ-Häftlinge mit Wurzeln in der Schweiz
Lea und Alain sind keine Einzelfälle. Mindestens 408 Schweizer Bürgerinnen und Bürger wurden gemäss unseren Recherchen während des Zweiten Weltkriegs in Konzentrationslager deportiert. Dazu kommen 334 Männer, Frauen und Jugendliche, die in der Schweiz geboren wurden, hier aufwuchsen, oft Mundart sprachen, aber die Schweizer Staatsbürgerschaft nicht besassen. Von diesen insgesamt 742 Menschen überlebten 468 die Konzentrationslager nicht.
Ihnen wollten wir mit unserem Buch ein Denkmal setzen. Weil sich in den 75 Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausser den Angehörigen niemand ihrer erinnert hatte. Nach der Veröffentlichung unseres Buches im Oktober 2019 hat sich einiges bewegt. Im Januar 2020 erkannte Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (60) als erste Vertreterin der Schweizer Regierung offiziell das Schicksal der Schweizer Opfer an. Seit gestern gibt es nun in Zürich für sieben von ihnen Stolpersteine, in den Boden eingelassene, mit Messingplaketten beschlagene Pflastersteine, eingraviert die Lebensdaten der KZ-Opfer.
Auch für Lea und Alain Berr wurden gestern Nachmittag zwei Steine in den Boden eingelassen. An der Clausiusstrasse 39 in Zürich, wo Lea als junge Frau bei ihren Eltern gewohnt hatte, bevor sie ihren Mann Ernest Louis heiratete, einen französischen Juden, und zu ihm nach Frankreich zog. Auch er starb in einem KZ.
«Ich wünschte, mein Vater hätte das miterlebt»
An der Steinsetzung war Denise Schmid-Bernheim (62) anwesend, die Nichte von Lea Berr. Sie sagt: «Dieser Akt ist für mich und meine Familie sehr emotional. Ich wünschte mir, mein Vater, Leas Bruder, hätte ihn miterlebt.»
Alles, was von seiner Schwester nach ihrem Tod geblieben ist, bewahrte er auf. Dokumente, Briefe, Fotos. Heute liegen sie bei Denise Schmid-Bernheim zu Hause in einer Box. «Diese Kiste mit einem Ordner und Fotoalben hat mir mein Vater hinterlassen, und ich werde sie meinen Kindern weitergeben.»
Die Erinnerung an Lea Berr und ihren Sohn Alain ist keine reine Privatsache. Sie geht uns alle an. Dass sich Zürich nun an seine Holocaustopfer zu erinnern beginnt, ist wichtig und richtig. Und besonders wertvoll, weil es nicht von oben herab angeordnet, sondern von engagierten Privatpersonen initiiert wurde.
Während der Recherchen zu unserem Buch, haben wir Tausende Dokumente zu Schweizer KZ-Häftlingen zusammengetragen. Die Dokumentation liegt nun im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich und steht der Öffentlichkeit zur Verfügung. Es ist zu hoffen, dass sich weitere Städte dem Beispiel von Zürich anschliessen.
Erinnern ist wichtig, aber es reicht nicht
Die Biografien der Schweizer KZ-Häftlinge führen nicht nur vor Augen, wohin die mörderische Ideologie des Nationalsozialismus führte. Sie zeigen auch, wie sich ein Staat zum Komplizen macht, wenn er Pragmatismus und Paragrafenreiterei über Moral und Ethik stellt. Denn leider hat sich die Schweiz nicht besonders für ihre Häftlinge eingesetzt. In manchen Fällen waren Beamte und Politiker sogar froh, «kümmerten» sich die Deutschen um gewisse KZ-Häftlinge, insbesondere Juden, Linke, Homosexuelle, Kriminelle. Es ist dringlich, dass wir uns als Gesellschaft daran erinnern – und dagegen ankämpfen, dass es wieder geschieht.
Im Ordner von Denise Schmid-Bernheim liegt ein Brief des Schweizerischen Aussenministeriums an Lea Berrs Mutter vom 14. Juli 1944. Sie hatte Bern angefleht, die Schweiz möge sich für ihre Tochter und deren Familie einsetzen. Ein Beamter antwortete, er könne nichts tun, Lea habe durch die Heirat mit einem Franzosen ihr Bürgerrecht verloren. Man habe allerdings das Konsulat in Paris angewiesen «die Frage zu prüfen, ob es eventuell versuchen könne, etwas über das Schicksal Ihrer Angehörigen in Erfahrung zu bringen». Als diese Antwort aus Bern an der Clausiusstrasse eintraf, waren Lea und Alain Berr schon in Auschwitz.
Seit gestern gibt es in Zürich sieben Stolpersteine für KZ-Opfer, die einst in der Stadt wohnten. Diese Art von Minidenkmälern wurde vom deutschen Künstlerpaar Katja und Gunter Demnig vor bald 30 Jahren kreiert. Alleine in Deutschland gibt es über 70'000, in der Schweiz bisher erst drei an der Grenze zu Deutschland im Kanton Thurgau. Nun erinnern in Zürich Stolpersteine an Lea Berr und ihren Sohn, an die jüdische Schweizerin Selma Rothschild und ihre Kinder Jula und Armand, die in Auschwitz ermordet wurden. An den Homosexuellen Josef Traxl, der in Buchenwald umkam. Und an den Gewerkschafter und Sozialdemokraten Albert Mülli, der drei Jahre in Dachau überlebte. Initiiert wurde die Zürcher Aktion vom Verein Stolpersteine Schweiz. Vereinspräsident Res Strehle (69) sagt: «Wir hoffen, dass unser Auftakt in Zürich auch in anderen Schweizer Städten, insbesondere in Basel, Bern, Genf, zur Verlegung weiterer Stolpersteine führt.»
Mehr unter stolpersteine.ch
Seit gestern gibt es in Zürich sieben Stolpersteine für KZ-Opfer, die einst in der Stadt wohnten. Diese Art von Minidenkmälern wurde vom deutschen Künstlerpaar Katja und Gunter Demnig vor bald 30 Jahren kreiert. Alleine in Deutschland gibt es über 70'000, in der Schweiz bisher erst drei an der Grenze zu Deutschland im Kanton Thurgau. Nun erinnern in Zürich Stolpersteine an Lea Berr und ihren Sohn, an die jüdische Schweizerin Selma Rothschild und ihre Kinder Jula und Armand, die in Auschwitz ermordet wurden. An den Homosexuellen Josef Traxl, der in Buchenwald umkam. Und an den Gewerkschafter und Sozialdemokraten Albert Mülli, der drei Jahre in Dachau überlebte. Initiiert wurde die Zürcher Aktion vom Verein Stolpersteine Schweiz. Vereinspräsident Res Strehle (69) sagt: «Wir hoffen, dass unser Auftakt in Zürich auch in anderen Schweizer Städten, insbesondere in Basel, Bern, Genf, zur Verlegung weiterer Stolpersteine führt.»
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