René Pilloud ist seit fast einem Jahr im KZ Gusen bei Linz (A) inhaftiert, als ihn die Lagerleitung im Januar 1945 ins Krematorium des Konzentrationslagers abkommandiert. Der 18-jährige Häftling mit der Nummer 60'440 muss dort Tote verbrennen. «Die männlichen und weiblichen Leichen, die nie über 35 Kilo wogen, wurden in Lastwagen herangefahren und in der Nähe des Ofens ausgekippt wie Material. Wir äscherten 300 bis 400 Leichen pro Tag ein.»
René Pilloud sollte das NS-Lagersystem überleben. Sein Schicksal und das anderer Schweizer KZ-Häftlinge aber kennt niemand mehr. Sie sind vergessene Opfer des Dritten Reichs.
Zum ersten Mal genaue Opferzahlen
75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat ein Autorenteam für das Buch «Die Schweizer KZ-Häftlinge» in einer vierjährigen Recherche zum ersten Mal dieses unerforschte Kapitel Schweizer Geschichte aufgearbeitet, die Rolle der Schweizer Verwaltung und Diplomatie untersucht – und genaue Opferzahlen ermittelt.
Mindestens 391 Schweizerinnen und Schweizer waren zwischen 1933 und 1945 in einem KZ inhaftiert. In Buchenwald, Dachau, Auschwitz, in Neuengamme, Ravensbrück und vielen weiteren Konzentrationslagern. Sie waren Widerstandskämpfer, Juden, Sozialisten, «Asoziale», Zeugen Jehovas, Sinti und Roma. Rechnet man Männer, Frauen und Kinder hinzu, die in der Schweiz geboren wurden, in vielen Fällen hier aufwuchsen, aber nicht die Schweizer Staatsbürgerschaft besassen, sind es sogar 719 Häftlinge. Sie alle wurden in von Deutschland besetzten Staaten verhaftet, wo auch fast alle lebten.
Die Schweizer Behörden hätten Dutzende Bürger retten können, wenn sie sich mutiger und mit mehr Nachdruck für die KZ-Häftlinge eingesetzt hätten. Zu diesem Schluss kommt das Autorenteam nach der Auswertung von Hunderten von Akten, Schriftwechseln und diplomatischen Noten in in- und ausländischen Archiven.
Wieso taten sie es nicht?
Einerseits herrschte Angst, Hitler zu verärgern und zu einer Invasion in der Schweiz zu provozieren. Tatsächlich befand sich das Land insbesondere nach der Kapitulation Frankreichs im Sommer 1940 in einer prekären Situation.
Andererseits gab es in Bern ein weitverbreitetes Desinteresse an den Opfern. Und zwar schon lange bevor ein Einmarsch Hitlers drohte.
Schon früh wurden erste Schweizer verhaftet
Gleich nach der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 beginnen die Nationalsozialisten in Deutschland, Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter zu verhaften. Unter ihnen sind auch Auslandschweizer. Zum Beispiel Franz Bösch. Der 23-jährige Melker wird am 24. Juni 1933 wegen «abfälliger Äusserungen über die Reichsregierung» ins KZ Oranienburg überstellt.
Sein Vergehen: Bösch war Mitglied in einem kommunistischen Sportverein. Der Schweizer Gesandte in Berlin und Maxime de Stoutz, Leiter der Abteilung für Auswärtiges im Eidgenössischen Politischen Departement, waren sich einig, dass es eine Ausweisung in die Schweiz zu verhindern gelte. Bösch sei «seinem Vaterlande gänzlich entfremdet».
In den 30er-Jahren sind die KZ für einen Teil der bürgerlichen Oberschicht nichts mehr als straff geführte Besserungsanstalten. Mit den Nazis teilt man die Abscheu gegen Linke. Otto Kellerhals, Direktor der Straf- und Erziehungsanstalt Witzwil im Kanton Bern, besucht 1935 das deutsche Lager Börgermoor – und ist angetan: Die harte körperliche Arbeit der Gefangenen im Moor erinnere ihn an seine eigenen Vollzugsmethoden.
In Wahrheit sind die KZ schon damals menschenverachtende Folterstätten, in denen gequält und auch getötet wird.
Antisemitismus ist in den Behörden weitverbreitet
Als der Krieg beginnt, wird das NS-Lagersystem zu einer eigentlichen Vernichtungsmaschinerie ausgebaut. 1939 sind rund 20'000 Menschen in KZ inhaftiert. 1942 sind es 80'000. Nach der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 nimmt die Zahl der jüdischen Häftlinge stark zu. Die Nazis haben beschlossen, die jüdische Bevölkerung in Europa auszulöschen. Vor allem in Frankreich geraten nun zahlreiche Schweizer Juden in die Fänge der Nazis. In der Schweiz interessiert auch das nur in sehr geringem Masse.
Pierre Bonna, der Nachfolger von de Stoutz als Leiter der Abteilung für Auswärtiges, hält schon 1935 fest, es müsse «der Eindruck vermieden werden, dass die Schweiz sich in besonderem Masse (…) als Beschützerin der Juden gegenüber dem Nationalsozialismus aufspiele».
Antisemitismus ist in den Schweizer Behörden verbreitet. Schweizer Beamte benutzen Nazi-Vokabular wie «Entjudung» oder «Arier». Als die Nationalsozialisten ab Oktober 1942 die Schweiz sowie andere neutrale Staaten auffordern, ihre jüdischen Bürger zurückzuholen, sträubt sich Bern lange dagegen, da man unter den Juden «unerwünschte Elemente» und hohe Sozialkosten befürchtet.
Noch am 7. Januar 1943 weist Bonna das Konsulat in Paris an, die Zahl der Rückkehrer so weit wie möglich zu beschränken. Erst kurz vor Ablauf des Ultimatums organisieren die Schweizer Vertretungen in Frankreich zwei Sonderzüge und holen 512 Schweizer Juden zurück. Es sind längst nicht alle. Mindestens 266 Schweizerinnen und Schweizer werden aus Frankreich in ein KZ deportiert.
Zu ihnen zählt auch René Pilloud. Seine Eltern waren in den 20er-Jahren aus wirtschaftlichen Gründen von Freiburg nach Bellegarde-sur-Valserine (F) 25 Kilometer südwestlich von Genf ausgewandert. Nach der Besetzung durch deutsche Truppen wird in der Region die Résistance aktiv und greift die Besatzer immer wieder an. Am 5. Februar 1944 startet die deutsche Wehrmacht deshalb eine Militäroperation gegen den französischen Widerstand. Pilloud ist da 17.
Einen Tag nach Beginn der Operation trifft sich der unpolitische Pilloud mit vier Kollegen – alle zwischen 16 und 20 Jahre alt –, um an einem Sportwettkampf im Hauptort des Départements teilzunehmen. Die fünf Jugendlichen sind Mitglieder des Sportvereins ihres Wohnorts. An einer Strassensperre werden sie und ihr Fahrer von der Wehrmacht angehalten, wegen Verdacht auf Widerstand verhaftet und der SS übergeben. Die Misshandlungen beginnen sofort. Nur vier werden den Krieg überleben.
Die Schweiz hat mehrere Möglichkeiten, Häftlinge zu befreien
Sind Schweizerinnen oder Schweizer einmal deportiert, ist es für die Diplomatie schwierig, diese zu befreien. Sämtliche Interventionen bei den Deutschen laufen über die Schweizer Gesandtschaft in Berlin. Dort sitzt mit Hans Frölicher ein Bürokrat, der alles tut, um die Nazis nicht zu verärgern.
Trotzdem hat die Schweiz Möglichkeiten, zu handeln. So gelingt es dem Schweizer Vertreter in Paris in mehreren Fällen, verhaftete Schweizer vor der Deportation zu bewahren. Auch in Köln (D), Budapest und Wien setzen sich Schweizer Diplomaten mutig und mit Erfolg ein.
Nach Kriegsende meldeten sich schnell die ersten Schweizer KZ-Überlebenden beim Bund. Viele waren nach oft jahrelanger Haft mittellos und schwer traumatisiert in die Heimat zurückgekehrt. Erst 1954 entschied der Bundesrat, Geld für die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung bereitzustellen. Er stellte jedoch klar, dass die Entschädigung eine freiwillige Leistung und kein Eingeständnis eigener Fehler sei. Die Schweiz habe alles unternommen, um ihren Bürgern zu helfen, so der Bundesrat. Das war schlicht gelogen.
Ab 1958 nahm die «Kommission für Vorauszahlungen an schweizerische Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung» (KNV) Entschädigungsgesuche entgegen. Als Kriterium für die Höhe der auszuzahlenden Beträge galt unter anderem auch «Selbstverschulden». Beziehungen zum Widerstand, illegaler Waffenbesitz, Hochverrat und Spionage oder Hilfeleistungen an Juden oder Gefangenen führten zu Kürzungen. Mit anderen Worten: Wer sich gegen die NS-Diktatur gestellt hatte oder sie sogar aktiv bekämpfte, erhielt weniger oder gar kein Geld. Insgesamt zahlte der Bund knapp über 10 Millionen Franken aus, durchschnittlich 12'000 Franken pro Fall. Die ausgezahlten Gelder erhielt die Schweiz später von Deutschland voll-umfänglich zurück.
Nach Kriegsende meldeten sich schnell die ersten Schweizer KZ-Überlebenden beim Bund. Viele waren nach oft jahrelanger Haft mittellos und schwer traumatisiert in die Heimat zurückgekehrt. Erst 1954 entschied der Bundesrat, Geld für die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung bereitzustellen. Er stellte jedoch klar, dass die Entschädigung eine freiwillige Leistung und kein Eingeständnis eigener Fehler sei. Die Schweiz habe alles unternommen, um ihren Bürgern zu helfen, so der Bundesrat. Das war schlicht gelogen.
Ab 1958 nahm die «Kommission für Vorauszahlungen an schweizerische Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung» (KNV) Entschädigungsgesuche entgegen. Als Kriterium für die Höhe der auszuzahlenden Beträge galt unter anderem auch «Selbstverschulden». Beziehungen zum Widerstand, illegaler Waffenbesitz, Hochverrat und Spionage oder Hilfeleistungen an Juden oder Gefangenen führten zu Kürzungen. Mit anderen Worten: Wer sich gegen die NS-Diktatur gestellt hatte oder sie sogar aktiv bekämpfte, erhielt weniger oder gar kein Geld. Insgesamt zahlte der Bund knapp über 10 Millionen Franken aus, durchschnittlich 12'000 Franken pro Fall. Die ausgezahlten Gelder erhielt die Schweiz später von Deutschland voll-umfänglich zurück.
Auch im Fall von René Pilloud interveniert die Schweiz mehrmals beim deutschen Auswärtigen Amt. Doch der Fall zeigt auch auf, wo die rote Linie liegt: Als am 25. Oktober 1944 der Polizeichef des Kantons Freiburg in einem Brief fordert, Deutschland diplomatisch unter Druck zu setzen – indem man Angehörigen von verhafteten deutschen Spionen den Besuch in der Schweiz verweigert –, lehnt der Bund solch harsches Vorgehen vehement ab.
Zu keinem Zeitpunkt nach Beginn des Kriegs droht die Schweiz dem Dritten Reich mit diplomatischen Gegenmassnahmen, um sich für Schweizer Gefangene in Konzentrationslagern einzusetzen. Der ebenfalls neutrale Staat Schweden tut genau dies. Erfolgreich.
Nur bei persönlichen Bekannten zeigen die Beamten in Bern vollen Einsatz
Bei persönlichen Bekanntschaften kennen die Schweizer Spitzenbeamten dagegen wenig Zurückhaltung: Heinrich Rothmund, Chef der Fremdenpolizei, und Bundesrat Eduard von Steiger weibeln hinter der Kulisse für drei jüdische Häftlinge, die sie kennen. Die beiden gelten als Architekten der restriktiven Schweizer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs, die zur Folge hatte, dass an der Schweizer Grenze zahlreiche Juden zurückgewiesen und damit in den Tod geschickt wurden.
Botschafter Hans Frölicher in Berlin versucht durch persönliches Vorsprechen bei einem hohen Nazifunktionär, einen 17-Jährigen vor dem Einsatz an der Ostfront zu retten.
Eine letzte Möglichkeit, Schweizer KZ-Häftlinge zu befreien, bietet sich der Schweiz zu einem Zeitpunkt, als sich die Konzentrationslager längst in Tötungsfabriken verwandelt haben. Bis heute ist kaum bekannt, dass mit Vertretern des Dritten Reichs in den Jahren 1943 und 1944 umfangreiche Geheimverhandlungen über einen Gefangenenaustausch stattgefunden haben. Deutschland ist grundsätzlich bereit, fast alle Schweizer freizulassen. Ende 1944 erstellen die deutschen Unterhändler eine Austauschliste, auf der der Chef der deutschen Sicherheitspolizei, Ernst Kaltenbrunner, neben den Namen von mindestens 18 Schweizer KZ-Häftlingen «keine Bedenken» bezüglich einer Freilassung vermerkt – unter ihnen auch ein jüdischer Schweizer.
Damit hätte die Schweiz die Möglichkeit gehabt, eine bemerkenswerte Zahl von Häftlingen aus den KZ zu befreien und damit die Voraussetzung für weitere Austauschaktionen zu schaffen.
Doch für Bern kommt ein Grossteil der Schweizer Häftlinge von Anfang an nicht für einen Austausch in Frage.
In einem Bericht hält ein Mitglied der Verhandlungsdelegation fest, welche Bürger von einem Austausch ausgeschlossen bleiben sollen: Kriminelle und solche, «die eine Tätigkeit ausgeübt hatten, die auch in der Schweiz unter Strafe gestellt ist oder aber im mindesten den schweizerischen Interessen abträglich scheint (wie beispielsweise Spionage gegen Deutschland zugunsten dritter Staaten, Beteiligung an der Widerstandsbewegung in Frankreich, kommunistische Umtriebe)».
Mit anderen Worten: Kommunisten, Widerstandskämpfer gegen Hitler und Kriminelle will man nicht freibekommen. Juden werden nicht einmal erwähnt.
Dieses Muster zieht sich im Umgang der Schweiz mit ihren KZ-Häftlingen von Anfang bis fast zum Ende durch. Bemerkenswert dabei ist, dass die Schweiz damit die fast exakt gleichen Menschen ausschliesst, die auch die Nationalsozialisten als «minderwertig» betrachten – eine Übereinstimmung mit den Nazis, an der seitens der Schweizer Behörden offenbar niemand Anstoss nimmt.
Als René Pilloud nach 444 Tagen im KZ zusammen mit acht weiteren Schweizer Häftlingen Ende April 1945 freikommt, wiegt er noch 39 Kilo. «Ich bin überzeugt, dass wir alle gestorben wären, wenn der Krieg noch zwei Monate länger gedauert hätte.»
Für mindestens 3,4 Millionen KZ-Häftlinge kam das Kriegsende zu spät. Sie starben in den Lagern der Nationalsozialisten. Unter ihnen auch über 200 Schweizer
Die Autoren Balz Spörri, René Staubli und Benno Tuchschmid (Leiter SonntagsBlick Magazin) haben in einer vierjährigen Recherche zum ersten Mal die Geschichte von Schweizern in Konzentrationslagern aufgearbeitet. «Die Schweizer KZ-Häftlinge – Vergessene Opfer des Dritten Reichs» untersucht, was die Schweizer Behörden für ihre Mitbürger getan haben und zeigt eine umfassende Opferliste. In Porträts werden zudem exemplarisch zehn Lebensgeschichten aufgezeichnet.
Balz Spörri, René Staubli, Benno Tuchschmid, «Die Schweizer KZ-Häftlinge – Vergessene Opfer des Dritten Reichs», NZZ Libro, 48 Fr. Buchvernissage am Dienstag, 29. Oktober, 19.30 Uhr, Kosmos, Lagerstrasse 104, 8004 Zürich
Die Autoren Balz Spörri, René Staubli und Benno Tuchschmid (Leiter SonntagsBlick Magazin) haben in einer vierjährigen Recherche zum ersten Mal die Geschichte von Schweizern in Konzentrationslagern aufgearbeitet. «Die Schweizer KZ-Häftlinge – Vergessene Opfer des Dritten Reichs» untersucht, was die Schweizer Behörden für ihre Mitbürger getan haben und zeigt eine umfassende Opferliste. In Porträts werden zudem exemplarisch zehn Lebensgeschichten aufgezeichnet.
Balz Spörri, René Staubli, Benno Tuchschmid, «Die Schweizer KZ-Häftlinge – Vergessene Opfer des Dritten Reichs», NZZ Libro, 48 Fr. Buchvernissage am Dienstag, 29. Oktober, 19.30 Uhr, Kosmos, Lagerstrasse 104, 8004 Zürich