Erika Egli (81) ist dement
Alzheimer, der Saucheib

Wie ist das, wenn man krankhaft vergisst? Unser Reporter begleitete ein Jahr lang eine Demenz-Patientin und ihre Partnerin.
Publiziert: 20.01.2018 um 21:18 Uhr
|
Aktualisiert: 13.12.2021 um 15:57 Uhr
Foto: Valeriano Di Domenico
Remo Schraner

Die schönste Erinnerung ist eine Bergwanderung. Ein Ausflug, den sie als 16-Jährige mit Freunden unternahm. Heute ist Erika Egli 81. Auf die Frage, wie es ihr seit unserem letzten Treffen ergangen sei, antwortet sie: «Welches Treffen?»

Erika Egli hat Demenz. Schlaganfälle, Halluzinationen und der steigende Verlust des Kurzzeitgedächtnisses bestimmen ihren Alltag. «Ich weiss die Dinge noch, aber sie bleiben hier oben stecken», sagt Egli und zeigt auf ihren Kopf. Schmunzelnd fügt sie an: «Es ist aber nicht mehr wichtig, alles zu wissen.»Anfang Januar des vergangenen Jahres treffen wir uns das erste Mal. Mit ihrer Lebensgefährtin Margrit Hasler (76) sitzen wir am runden Holztisch in der gemeinsamen Wohnung des Paares im zürcherischen Oberengstringen. Vom Tisch aus sieht man auf die vollen Bücherregale in der Stube. Auf dem Beistelltisch liegt ein angefangenes Puzzle. Seit über zwanzig Jahren leben die beiden Frauen zusammen. 1973 lernen sich Hasler und Egli bei der Arbeit kennen. Beide arbeiten als Sozialarbeiterinnen beim Jugendsekretariat in Meilen ZH. Sie verstehen sich von Anfang an gut und unternehmen in der Freizeit Ausflüge. Der Rheinfall wird zum gemeinsamen Lieblingsort. Sie verlieben sich und ziehen zusammen. Für ihre Freunde und Verwandten sind sie zwei Freundinnen, die lieber zu zweit statt alleine wohnen.

Die Selbständigkeit und die Unabhängigkeit sind für beide Frauen wichtig. So ist es nicht aussergewöhnlich, wenn sie ab und an getrennt in die Ferien gehen.

Die Partnerinnen hegen keinen Groll gegen die Krankheit

Heute ist alles anders. Den Rheinfall besuchen sie nur noch selten. Denn Erika Egli kann mit den diversen Sinneseindrücken nicht mehr umgehen. Die Enge in der Menschenmasse, die Geräusche und der Weg mit den öffentlichen Verkehrsmitteln überfordern sie. «Der Alzheimer ist ein Saucheib!», sagt Hasler. Doch einen Groll gegen die Krankheit hegen die beiden nicht. Sie akzeptieren sie.

Vor acht Jahren macht sich der «Saucheib» zum ersten Mal bemerkbar. Egli verlegt den Hausschlüssel, vergisst, den Koffer für den Umzug zu packen, und beginnt, falsche Erinnerungen zu haben. Sie glaubt etwa, die volle Einkaufstasche schon ausgeräumt zu haben.

Hasler bittet Egli, sich bei der Hausärztin auf Demenz hin untersuchen zu lassen. Ein wenig widerwillig und nach längerem Überreden tut Erika Egli ihrer Partnerin den Gefallen. «Sie kam nach Hause und sagte mir: Ha! Siehst du, selbst meine Ärztin sagt, dass bei mir alles in Ordnung ist!», erinnert sich Hasler. Erika Egli nickt. Doch die Vergesslichkeiten häufen sich. Ein Jahr später wiederholt sie die Abklärung im Spital Limmattal. Dort gibt es eine Abteilung, die auf verschiedene Arten von Demenz spezialisiert ist.

Diesmal wird klar: Erika Egli leidet unter Demenz und hat Alzheimer.Demenzerkrankungen sind nur schwer diagnostizierbar. Auch weil sie aus einer Kombination mehrerer Krankheiten bestehen. Zudem vertuschen Betroffene oft ihre Vergesslichkeit. Wie auch gesunde Menschen sich nichts anmerken lassen wollen, wenn ihnen zum Beispiel der Name des Gegenübers entfallen ist. «Endlich wusste ich, dass Erika nicht eine faule Socke, sondern krank ist», sagt Margrit Hasler. Erika Egli nickt.

Während unseres Gesprächs fällt auf, dass Margrit Hasler oft für ihre Partnerin antwortet. Egli braucht beim Reden zwar etwas länger, das Einspringen von Hasler ist aber nicht immer notwendig. «Ich bin halt ein sehr ungeduldiger Mensch. Mit der Krankheit von Erika musste ich mich in Geduld üben», gesteht Hasler. Egli nickt erneut und fügt an: «Das macht sie gut. Ich habe halt mehr Geduld als du, gell?» Auf die Frage, ob die Krankheit die Beziehung grundlegend verändert habe, antwortet Hasler: «Einen Gutenachtkuss vor dem Einschlafen gibt es auch heute noch.»

Beim Einkaufen wird das Gehirn trainiert

Nach unserem ersten Treffen halten wir telefonisch Kontakt. Nicht nur weil persönliche Gespräche für Erika Egli Stress bedeuten, sondern auch weil Margrit Hasler an einer seltenen rheumatischen Erkrankung leidet. Diese bewirkt seit Jahren starke Muskelschmerzen. Oft kann Hasler nur noch an Krücken gehen.

Unweigerlich stellt sich die Frage: Wer von beiden leidet eigentlich mehr an den Auswirkungen der Demenz – die betroffene Erika Egli oder die betreuende Margrit Hasler? Denn Egli selbst scheint gelassen mit ihrer Krankheit umzugehen. Bei unserem ersten Treffen wiederholte sie immer wieder: «Ich wusste ja, was auf mich zukommt.» Irene Bopp-Kistler (61), Leitende Ärztin der Memory Clinic in Zürich, sagt dazu: «Angehörige von Demenzpatienten haben ein erhöhtes Risiko, selbst krank zu werden.» Sie vermutet, dass der Stress der Betreuung zu diesem Risiko führt (siehe Interview, Seite 8). Um diesen Stress gering zu halten, legte die Hausärztin Margrit Hasler nahe, dass Erika Egli möglichst bald in ein Pflegeheim ziehen solle. Doch das kam für Margrit Hasler nicht in Frage. «Wir gehören schliesslich seit über 40 Jahren zusammen!», sagt Hasler.

1/5
Erika Egli (81) weiss immer weniger. Aber an eine Bergwanderung in ihrer Jugend erinnert sie sich noch genau.
Foto: Valeriano Di Domenico

Während Erika Eglis Wahrnehmung über die Jahre abgenommen hat, stieg die von Hasler. Inzwischen könne sie spüren, wenn sich bei ihrer Partnerin kleine Durchblutungsstörungen ankündigen. Es sind winzige Schlaganfälle, die Schwindel und Verwirrung auslösen. Auch das gehört zu Erika Eglis Demenz. Durch die Betreuung rund um die Uhr vereinsamt man leicht. Um dies zu verhindern, besucht Hasler wöchentlich einen Englischkurs, und an den Wochenenden gibt sie zu Hause einer Bekannten Deutschunterricht.

Nach der Diagnose vor fünf Jahren wurde auch Erika Egli aktiv. Zwei- bis dreimal in der Woche besuchte sie das Tageszentrum des Spitals Limmattal. Hier nahm sie am Gedächtnistraining teil und genoss den Kontakt mit den anderen Senioren. Zudem engagierte sie sich ein Jahr lang im Vorstand der zürcherischen Alzheimervereinigung. Doch dann wurde es ihr zu viel. Auch aus ihrer wöchentlichen Aquafit-Gruppe musste sie aussteigen. Das war im Oktober 2016.«Meine Filmrisse häuften sich. Und ich kann ja niemandem zumuten, dass man nach mir tauchen muss!», erinnert sich Erika Egli. Mit «Filmrisse» meint sie die kleinen Durchblutungsstörungen im Gehirn. «Das ist, als ob der Alzheimer durch mein Gehirn rennen würde.»

Nach vierzig Jahren kommt es zur Trennung

Ab einem bestimmten Zeitpunkt konnte Hasler ihre Partnerin nicht mehr zum Einkaufen mitnehmen. Aber Erika Egli alleine zu Hause zu lassen, wäre ebenfalls zu gefährlich gewesen. Drei Jahre nach der Diagnose nahm Hasler das erste Mal Hilfe an: Eine Betreuerin einer Freiwilligenorganisation hilft bis heute einmal in der Woche aus. In der «freien» Zeit erledigt Margrit Hasler den Haushalt.Erika Egli sitzt im Tageszentrum des Spitals Limmattal auf einem Holzstuhl am grossen Tisch und strickt. «Hier fühle ich mich wohl. Und nützlich», sagt sie. Sie erzählt, dass sie, die selbst Pflege brauche, dem Personal ab und zu aushelfe. In der Küche beim Gemüserüsten oder manchmal beim Toilettengang anderer Patienten. «Früher habe ich ja schon mit Senioren gearbeitet. Ich kenne das alles», sagt die ehemalige Sozialarbeiterin.

Um uns herum hat sich eine kleine Gruppe gebildet. Egli steht im Mittelpunkt des Interesses. Sie hat sich das Tageszentrum als Ort für das Fotoshooting ausgesucht und posiert für die Kamera. Entspannt schaut sie von ihrer Strickete auf, lächelt und strickt weiter. Margrit Hasler ist angespannter. Eigentlich will sie nicht wirklich mit auf das Foto. Es gehe ja um Erika. An das letzte Treffen vor drei Wochen kann sich Erika Egli nicht erinnern. Angst davor, dass sie irgendwann auch ihre Partnerin Margrit Hasler vergesse, hat sie nicht. «Da habe ich Gottvertrauen.» Doch nun müsse sie weiterstricken. Schliesslich warten einige Leute auf ihre fertigen Socken.

Nach dem Fototermin sehen wir uns für längere Zeit nicht mehr. Wegen einiger gesundheitlicher Vorfälle verschiebt sich unser nächstes Treffen. Im April beginnen sich die Filmrisse von Erika Egli zu häufen. Telefonisch bleiben wir in Kontakt. «Es können vier bis fünf Anfälle pro Tag auftreten», erzählt Margrit Hasler. Gespräche mit Erika Egli sind für Aussenstehende nun nicht mehr möglich. Es würde sie zu sehr anstrengen. Auch der Gesundheitszustand von Hasler verschlechtert sich. Inzwischen kann sie sich nur noch mit den Krücken fortbewegen. Hasler fasst den Gedanken, für ihre Erika einen dauerhaften Platz in einem Pflegezentrum zu suchen. «Der eigentliche Plan war, dass Erika ins Altersheim geht, ich unseren Haushalt auflöse und dann zu ihr ziehe», sagt Hasler. Doch das geht nicht mehr. Für ein Altersheim ist Erika Egli zu krank, und für ein Pflegeheim ist Margrit Hasler zu gesund. Ende Mai geht Erika Egli alleine ins Pflegeheim.

Das Telefon muss den Gutenachtkuss ersetzen

Es wird August, und Margrit Hasler erscheint alleine zu unserem Treffen. «Ein fertiger Mist ist das!», sagt sie. In ihrem Rucksack sucht sie ein Taschentuch. Ihre Augen werden feucht. Zum ersten Mal in diesen Monaten scheint Hasler die Kontrolle über ihre Emotionen zu verlieren. Fast. Sie sei nur erkältet, sagt sie. Erika gehe es gut. Hasler jedoch ist nun alleine in der 4½-Zimmer-Wohnung. Wurde die Monatsmiete früher hälftig geteilt, trägt sie diese nun alleine. Die Kosten für das Pflegeheim wird zwar von Eglis Geld bezahlt, aber die Pflege ist sehr teuer. Nun informiert sich Hasler, ab wann sie für ihre Partnerin Ergänzungsleistungen beziehen kann.

Eine kleinere und günstigere Wohnung kommt für Hasler trotz allem nicht in Frage. Obwohl in ihrer Nachbarschaft gerade eine frei steht. Denn Erika Egli verbringt die Zeit von Freitagabend bis Sonntagnachmittag bei ihrer Partnerin in der Wohnung. Würde Margrit Hasler umziehen, möchte Egli nicht mehr zu ihr kommen. Trotz Demenz fand Erika Egli diese klaren Worte. Fremdes schüchtert sie ein. Selbst in der vertrauten Wohnung in Oberengstringen findet Egli inzwischen nicht immer den Weg in die entsprechenden Zimmer.

Warum fühlt sich Erika Egli im Pflegeheim, ihrem neuen Zuhause, so wohl? Weil ihr der Ort nicht fremd ist. Denn das Pflegeheim befindet sich im Obergeschoss des Gebäudes, in dem auch das Tageszentrum untergebracht ist. Und dieses kennt Egli nun schon seit fünf Jahren. So verbringt sie den Tag wie gewohnt in den ihr bekannten Räumlichkeiten. Um ins Bett zu gehen, nimmt sie den Aufzug und gelangt so zu ihrem Schlafzimmer. «Den Gutenachtkuss ersetzen wir durch ein abendliches Telefonat. Es kommt oft vor, dass Erika den Hörer nicht abnimmt, weil sie mit ihren Freunden noch am Tisch sitzt. Sie pflegt mehr soziale Kontakte als ich», sagt Margrit Hasler.Eine grosse Entlastung oder gar ein Befreiungsschlag ist der Auszug ihrer Partnerin für Margrit Hasler nicht. Oft sei sie im Alltag orientierungslos. Darum geniesst Hasler die gemeinsamen Wochenenden. Erst wenn Erika Egli ihre Partnerin nicht mehr erkennt, wird Hasler sie auch über das Wochenende im Pflegeheim lassen. «Ich würde sie aber besuchen gehen. Auch wenn ich für sie dann eine Fremde bin», sagt sie.

Zwei Frauen, drei Erdmännchen und viel Geduld

Im Dezember verkündet Margrit Hasler: «Erika kommt wieder nach Hause!» Der Gesundheitszustand von beiden hat sich verbessert. Erika Egli freut sich, schon Wochen vor dem Umzug hat sie gepackt. Endlich seien die schlaflosen Nächte vorüber, erzählt Hasler. Endlich müsse sie sich keine Sorgen mehr um ihre Erika machen. Endlich kann sie die Betreuung wieder selbst übernehmen. Mitte Dezember zieht Erika Egli zurück in die gemeinsame Wohnung. «Das Pflegeheim war recht. Daheim ist auch gut», kommentiert Egli.Bei unserem letzten Telefongespräch Anfang Januar erzählt Hasler, dass alles gut laufe. Dreimal in der Woche gehe ihre Partnerin wieder ins Tagesheim. Da Eglis Erinnerungsvermögen zunehmend schwindet, hat Hasler sie vorsorglich wieder in einem Altersheim mit einer Pflegeabteilung angemeldet. Grosse Pläne für die Zukunft mache sie sich nicht mehr. «Ich schaue weiter, wenn es so weit ist.»

Momentan arbeitet Erika Egli an einem 300-teiligen Puzzle. Wenn es fertig ist, soll das Sujet drei Erdmännchen zeigen. Bis zu zwei Stunden am Stück kann sich die an Demenz erkrankte Erika Egli damit verweilen. Die Geduld ihrer Partnerin Margrit Hasler jedoch ist nach einer Viertelstunde meist aufgebraucht. Ab und an stichelt Erika Egli: «Du, Margrit, jetzt könntest du mal wieder ein passendes Puzzlestück suchen!»

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.
Fehler gefunden? Jetzt melden

Was sagst du dazu?