Beim Antrag auf eine Rente prüft die IV zweierlei: Welche Tätigkeit ist dem Betreffenden trotz Beeinträchtigung zumutbar? Und: Wie hoch ist der Lohn dafür?
Der sogenannte Medianlohn der zumutbaren Tätigkeit wird dann dem früheren Lohn gegenübergestellt. Je grösser die Differenz, desto höher der Invaliditätsgrad – und die Chance auf eine IV-Rente oder eine Umschulung.
So kompliziert wie diese Berechnung, so einschneidend sind auch die Folgen für Betroffene. 2019 berichtete SonntagsBlick über einen ehemaligen Lastwagenfahrer mit einer nicht enden wollenden Krankheitsgeschichte. Die IV-Stelle kam damals zum Schluss, dass in der Tätigkeit als Chauffeur «aus medizinischer Sicht weiterhin eine 60-prozentige Arbeitsfähigkeit» bestehe. In jeder «adaptierten», also angepassten Tätigkeit betrage die Arbeitsfähigkeit gar 100 Prozent – sofern diese «überwiegend sitzend», «ohne häufiges Treppen- oder Leitersteigen» und «nicht in hockender oder kniender Position» verrichtet werden könne.
Die IV-Stelle folgerte daraus, dass der Antragsteller «mit gesundheitlicher Einschränkung» 66'720 Franken pro Jahr verdienen könne. «Ohne gesundheitliche Einschränkung» ging die Behörde beim ehemaligen LKW-Fahrer von einem Jahreseinkommen von 69 '371 Franken aus. Seine jährliche Erwerbseinbusse betrug 2651 Franken, also vier Prozent. Folglich bestehe auch ein Invaliditätsgrad von lediglich vier Prozent. Fazit: «Kein Anspruch auf eine Invalidenrente.»
Wer hat, dem wird gegeben
Der Entscheid wäre anders ausgefallen, hätte der Betroffene vor seiner Behinderung deutlich mehr, zum Beispiel 120'000 Franken verdient. Dann wäre eine Einbusse von 53'280 Franken die Folge gewesen, ein Invaliditätsgrad von 44 Prozent und zumindest der Anspruch auf eine Teilrente.
Das Beispiel zeigt: Je weniger jemand verdient, desto geringer ist die Chance, im Bedarfsfall eine Invalidenrente zu erhalten. In Kürze wird sich der Bundesrat mit dieser Benachteiligung von Geringverdienern beschäftigen müssen. Da per 1. Januar 2022 ein neues IV-Gesetz in Kraft treten soll, muss auch die entsprechende Verordnung angepasst werden.
An der Berechnung des Invaliditätsgrads wird sich nichts ändern. Zur Diskussion steht aber, welche Referenzlöhne in Zukunft herangezogen werden sollen, um das theoretische Einkommen mit Beeinträchtigung zu bestimmen.
Studien zeigen, dass IV-Stellen systematisch überschätzen, was man als Invalide noch verdienen kann. Der Grund: Die IV stützt sich bei ihren Berechnungen auf die Lohnstrukturerhebung (LSE) des Bundesamts für Statistik. Diese Tabellenlöhne spiegeln jedoch das Lohnniveau von Personen ohne gesundheitliche Einschränkung – und sind deshalb zu hoch.
Das Bundesgericht hielt unlängst fest, dass die LSE nur als Übergangslösung für die Berechnung des Invaliditätsgrads dienen könne. Und sogar die SVP schrieb in ihrer Vernehmlassungsantwort: «Es ist erwiesen, dass gesundheitlich beeinträchtigte Menschen (...) zwischen 10 bis 15 Prozent weniger verdienen als gesunde Personen in der gleichen Tätigkeit.»
Tatenlosigkeit beim Bund
Trotz allem sind beim Bund kaum Bemühungen erkennbar, eine bessere Datengrundlage zu schaffen. Mehr noch: Es scheint gar möglich, dass der Bundesrat die LSE als Referenz in die neue Verordnung schreiben wird.
Alex Fischer von der Behindertenorganisation Procap findet das erschreckend: «Der Bundesrat würde damit die Benachteiligung von Geringverdienern zementieren.» Er hofft darauf, dass stattdessen eine neue Datenerhebung verordnet wird. «Wir brauchen endlich Zahlen, die ein realistisches Bild der Verdienstmöglichkeiten von Menschen mit Behinderung zeigen.»
Sei der Bundesrat nicht bereit, neue Daten zu erheben, müsse er vom Medianlohn wegkommen. Fischer: «Die IV sollte wenigstens dazu verpflichtet werden, sich in ihren Berechnungen auf das untere Viertel der Löhne zu stützen.» Das würde der Wirklichkeit zumindest näher kommen.