Atomares Risiko durch ukrainische Kernkraftwerke
Wenn auch Jodtabletten nichts nützen

Was geschieht bei Beschuss eines Atomkraftwerks? Warum Stromausfälle gefährlich sind, wie Messsysteme schützen und was das Wetter damit zu tun hat.
Publiziert: 13.03.2022 um 13:35 Uhr
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Aktualisiert: 14.03.2022 um 12:10 Uhr
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Saporischschja: Was genau geht in Europas grösstem Atommeiler vor?
Foto: imago images / Ukrinform
Tobias Marti

Manche Orte bleiben für immer im kollektiven Gedächtnis: Three Mile Island, Tschernobyl oder Fukushima stehen für den atomaren Super-GAU. Um ein Haar wäre Saporischschja Anfang März zu diesem Kanon des Schreckens hinzugekommen, nachdem russische Truppen Europas grösstes Atomkraftwerk im Süden der Ukraine eroberten und Gebäude in Brand schossen.

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) warnte vor den Folgen des Angriffs. «Bei dem, was da passiert, ist nichts normal», so Rafael Grossi (61), Generaldirektor der IAEA in Wien. Derzeit scheint die Lage stabil. Keiner der sechs Reaktoren in Saporischschja wurde laut IAEA beschädigt. Schwedische, chinesische und russische Messzentren stellten fest, dass keine Radioaktivität austritt, erhöhte Strahlungswerte wurden nicht gemessen.

Dennoch fragen sich nun viele, wie sicher ukrainische Atomkraftwerke mitten in diesem Krieg sein können.

Die Reaktorgebäude bestehen aus dickem, armiertem Beton. Mehrere Barrieren müssten zerstört werden, damit Radioaktivität freigesetzt wird, sagt Annalisa Manera, Kerntechnikerin an der ETH. Der Reaktorkern sitze in einem massiven Stahlbehälter, der wiederum in einer Kammer aus Stahlbeton.

«Gegen Beschuss nicht geschützt»

Aber gegen einen «gezielten und mehrfachen Beschuss sind Reaktoren nicht geschützt», so Manera. Allerdings könnten die Angreifer kein Interesse an einer Havarie haben. Die Konsequenzen wären auch für Putins Armee und grenznahe Gebiete in Russland fatal. Das grösste Risiko sieht die Wissenschaftlerin darin, dass die elektrische Versorgung der Reaktoren unabsichtlich zerstört wird und der Strom komplett ausfällt.

Wie vor zwei Wochen in Tschernobyl, wo 1986 ein Kraftwerksblock explodiert war und die bisher grösste zivile Atomkatastrophe auslöste. Seit Samstag hat das Werk, das heute nicht mehr in Betrieb ist, wenigstens teilweise Strom.

Wenn die Energieversorgung eines AKWs ausfällt, werde der Reaktor automatisch abgeschaltet, erklärt Manera. Doch die Brennstäbe müssten weiter gekühlt werden. Als das im japanischen Fukushima vor genau elf Jahren nicht mehr funktionierte, flog auch dort ein Reaktor in die Luft. Ohne Strom braucht ein Atomkraftwerk Dieselmotoren, die im Fall von Saporischschja sieben Tage arbeiten können, bis ihnen der Treibstoff ausgeht, so die Kerntechnikerin. «Eine solche Abkühlung dauert aber über Monate.»

Das automatische Sicherheitssystem schalte den Reaktor zwar ab, wenn die Anlage von den Normalwerten abweiche. Dennoch sieht Manera in einer Fehlbedienung aufgrund der militärischen Besetzung mögliche Gefahren. So etwa, wenn die Bedienungsmannschaft eine Genehmigung des Kommandanten benötigt, um überhaupt Entscheidungen zu treffen.

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Drei Wochen arbeiten ohne Ruhepause

Die Atombehörde IAEA warnte denn auch Anfang Woche, Saporischschjas Kommunikation mit der Aussenwelt und der Schichtbetrieb seien gestört. Die Mitarbeiter waren seit dem 23. Februar ohne Ruhepause auf dem Gelände. Mittlerweile wird offenbar wieder in drei Schichten gearbeitet.

Nur: Würden wir von einem Reaktorunfall in der Ukraine überhaupt erfahren?

Die Schweiz verfügt über mehrere Strahlungswarnsysteme, etwa das Messnetz der Nationalen Alarmzentrale (NAZ), das mit 76 Sonden in der ganzen Schweiz alle zehn Minuten die aktuelle Strahlung ermittelt. Beim Überschreiten des Schwellenwerts von einem Mikrosievert pro Stunde wird automatisch Alarm ausgelöst. «Dass ein Ereignis im Ausland zu einer derart starken Erhöhnung der Direktstrahlung führt, ist sehr unwahrscheinlich», teilt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (Babs)mit.

Wird Strahlungsalarm ausgelöst, wird dies über Radio, die Alarm-App Alertswiss und Sirenen gemeldet. Die Bevölkerungsschützer empfehlen, die Alarm-App auf dem Handy zu installieren.

Heute wird genauer hingeschaut

Den Super-GAU in Tschernobyl 1986 wollten die sowjetischen Behörden zunächst geheim halten. Die Welt erfuhr erst zwei Tage später davon, weil ein Techniker in einem schwedischen Atomkraftwerk zufällig erhöhte Strahlung meldete. Der Wind hatte die radioaktive Wolke 1000 Kilometer nach Norden getragen, Tage später erreichte sie auch die Schweiz. Noch 30 Jahre danach lassen sich hierzulande radioaktive Spuren finden – besonders im Tessin. Zu diesen flüchtigen Stoffen gehören radioaktives Cäsium-137 und Jod-131, beides Krebs erzeugende Elemente. Jod-131 kann sich in der Schilddrüse ansammeln, Cäsium-137 im Knochengewebe.

Heute tauschen nationale Messnetze in ganz Europa ihre Daten aus. Die Alarmzentrale NAZ «beobachtet die Lage in der Ukraine intensiv», heisst es dort. Die Behörde steht in ständigem Kontakt mit der IAEA. Die Schweizer können «im Prinzip auch die Daten der Umgebungsüberwachung in der Ukraine verfolgen», rechnen aber durch den Krieg mit Unterbrüchen.

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Mitarbeiter des deutschen Bundesamts für Strahlenschutz waren noch im September in der Sperrzone von Tschernobyl, um verschiedene Szenarien durchzuspielen. Fazit der Deutschen: Nur in etwa 17 Prozent der Wetterlagen bewegen sich die Luftmassen Richtung Westen.

Die aktuelle meteorologische Lage stehe auch gegenwärtig im Vordergrund, so die Behörden. Dafür würden mögliche Ausbreitungsszenarienen mehrmals täglich berechnet. Gerade weht in der Ukraine ein Südwestwind, bei einer Havarie dürften daher Messgeräte auf dem Balkan als erste Alarm schlagen.

Jodtabletten nicht auf Vorrat einnehmen

«Aufgrund der Distanz zwischen der Schweiz und der Ukraine ist es unwahrscheinlich, dass die Jodtabletten in der Schweiz notwendig werden», erklärt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz. Jod blockiere ohnehin nicht die Aufnahne aller radioaktiven Elemente. Bei einer radioaktiven Wolke sei besonders der geschützte Aufenthalt entscheidend, etwa im Haus, Keller oder Schutzraum.

Schweizweit fragt die Bevölkerung nach Jodtabletten oder Schützräumen nach. Rund zehn bis 20 Anfragen pro Tag sind es etwa beim Kanton Aargau, wie es dort heisst. Landesweit besitzen rund fünf Millionen Einwohnerinnen und Einwohner eine persönliche Packung Jodtabletten. Die Bevölkerungsschützer warnen: «Es ist wichtig, die Jodtabletten nur gemäss Anordnung der Behörden einzunehmen.»

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