Gastkommentar von Otto Schily
Die Lösung ist das Modell Schweiz

Niemand sollte sich der Illusion hingeben, die Ukraine könne eines Tages EU- oder gar Nato-Mitglied werden. Soll diesem Krieg ein tragfähiger Frieden folgen, braucht das Land eine neue Positionierung und auch ein neues System. Naheliegendes Vorbild ist die Schweiz.
Publiziert: 12.03.2022 um 21:09 Uhr
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Aktualisiert: 13.03.2022 um 19:38 Uhr
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Seit zweieinhalb Wochen herrscht zwischen der Ukraine und Russland Krieg.
Foto: AFP
Otto Schily

Der von Präsident Wladimir Putin entfesselte mörderische Krieg in der Ukraine ist selbstverständlich ohne jede Einschränkung zu verurteilen. Aber der Krieg hat leider eine Vorgeschichte der gravierenden politischen Versäumnisse. Die Diplomatie war ein Totalausfall. Auch die deutsche Aussenpolitik hat rundum versagt.

Was ist auf deutscher Seite in den vergangenen Jahren unternommen worden, um den Ukraine-Konflikt zu entschärfen? Man hat ihn schwelen lassen und war blind für die Gefahr, dass sich daraus eine explosive Situation entwickeln kann.

Statt nach einer tragfähigen Lösung zu suchen, hat man die ukrainische Führung in die Illusion treiben lassen, die Ukraine könne eines Tages Mitglied der Nato werden. Noch im September vergangenen Jahres veranstaltete die Nato gemeinsame Militärübungen auf dem Territorium der Ukraine.

Es braucht konstruktive Ideen für ein Ukraine-Modell

Die Warnung des weisen Henry Kissinger, die führenden Politiker aller Seiten sollten sich auf die Prüfung von Ergebnissen konzentrieren, anstatt sich in Posen zu ergehen, hat man sowohl in Moskau wie in Washington, London, Paris und Berlin in den Wind geschlagen. Sein Rat an die Adresse der Ukraine, das Ziel einer Nato-Mitgliedschaft aufzugeben und sich stattdessen um andere Strukturen zu bemühen, die eine Verständigung mit Russland ermöglichen, blieb ungehört.

Angesichts des Unheils, das über die Ukraine hereingebrochen ist, müssen wir ihr sicherlich alle nur denkbare Hilfe angedeihen lassen, mit Ausnahme von Massnahmen, die die Welt in die Nähe eines dritten Weltkrieges rücken würden. Die wichtigste Hilfe aber, die wir leisten können, sind konstruktive Ideen für ein Ukraine-Modell, das für alle Seiten annehmbar ist und eine positive Perspektive für eine friedliche Entwicklung dieser Weltregion bietet.

In dieser Richtung ist es ermutigend, dass sich Präsident Emmanuel Macron, Bundeskanzler Olaf Scholz und Präsident Xi Jinping den Medien zufolge gemeinsam für eine politische Beilegung der Ukraine-Krise einsetzen wollen. Am Anfang muss die eigentlich für alle Beteiligten zugängliche Einsicht stehen, dass der Ukraine-Krieg möglicherweise – jedoch unter Hinnahme von Tausenden Toten und schrecklichen Zerstörungen – militärisch «gewonnen» werden kann.

Gleichwohl bliebe dann ein Frieden politisch unerreichbar, nicht zuletzt wegen der tiefgreifenden, lang anhaltenden, weltweiten wirtschaftlichen und politischen Verheerungen als unmittelbare Folge des Krieges.

Donbass könnte dank dem Modell Schweiz Autonomie zugestanden werden

Wenn die Suche nach einer politischen Lösung nicht eine blosse Worthülse bleiben soll, stellt sich die Frage: Wie kann sich die Ukraine in einer Form positionieren, die ihrer eigenen Grundforderung nach einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung in einem souveränen Staat entspricht, die aber zugleich ein friedliches Nachbarschaftsverhältnis mit Russland und anderen Anrainerstaaten begründet?

Im Blick auf die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Vielfalt der Ukraine sollte sie sich an der Schweizer Verfassung orientieren. Die Schweiz hat es in mustergültiger Form verstanden, über Jahrhunderte eine freiheitliche Gesellschaft zu entwickeln, mit urdemokratischen, vorwiegend dezentralen Entscheidungsverfahren sowie mit wechselseitigem Respekt vor unterschiedlichen kulturellen und ethnischen Prägungen, einschliesslich der dort selbstverständlichen Akzeptanz der Mehrsprachigkeit.

Aufgrund ihrer besonderen Lage hat sich die Schweiz zu militärischer Neutralität verpflichtet, ohne damit ihre wertegebundenen politischen Grundsätze aufzugeben.

Für die Europäische Union und Russland gleichermassen wäre eine neutrale Ukraine mit einer kantonalen, mehrsprachigen staatlichen Struktur nach Schweizer Muster künftig eine gute Nachbarschaft mit vielversprechenden Aussichten der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit.

Dem russischsprachigen Donbass könnte eine umfassende kantonale Autonomie zugestanden werden. Ob die Annexion der Krim rückgängig gemacht werden kann, müssen die konkreten Verhandlungen ergeben. Wenn alle Seiten erkennen, welche sehr weitreichenden Möglichkeiten eine grenzüberschreitende wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit bietet, bei der die Ukraine eine Brückenfunktion einnimmt, wird sich die Krim-Frage vielleicht in ihrer Bedeutung relativieren, und es lässt sich eine pragmatische Antwort finden.

Eine Freihandelszone würde die Wirtschaft enorm beleben

Ob in diesem Schweiz-Konzept die Ukraine in Zukunft Mitglied der Europäischen Union werden kann, ist eher unwahrscheinlich, weil ohnehin die EU aus Eigeninteresse zur Vermeidung einer Überdehnung zurückhaltend bleiben wird. Jedoch könnten EU, die Ukraine und Russland sich in einer weiter reichenden Strategie auf eine Freihandelszone einigen, die zu einer enormen Belebung der Wirtschaft auf allen Seiten führen würde.

Sich auf die friedensstiftende Idee einer «Schweizer Verfassung» für die Ukraine einzulassen, erfordert gewiss Mut und die Entschiedenheit, sich von anachronistischen nationalistischen Machtambitionen zu verabschieden. Es erfordert Kompromissbereitschaft und den Verzicht auf ultimative Forderungen. Für die eng verwandten und in tiefster Seele friedliebenden Völker der Ukraine und Russlands wird das Schweizer Modell den Weg in eine verheissungsvolle Zukunft öffnen, in der die Ukraine ihre reichen kulturellen und wirtschaftlichen Potenziale zugunsten des eigenen Landes und zugleich der ganzen Welt auf nie da gewesene Weise entfalten kann.

* Otto Schily war von 1998 bis 2005 deutscher Bundesinnenminister. Er ist Mitglied der SPD.

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