Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit einem «Nein zum Krieg»-Plakat auf die Strasse und werden von Polizisten mit Helmen und Schlagstöcken wie ein Verbrecher gejagt. Manchmal tragen diese nicht einmal Erkennungsschilder. Doch Sie werden verprügelt. Sie können sich nirgends darüber beschweren. Ihnen drohen bis zu 15 Jahre Gefängnis wegen «Verbreitung falscher Informationen über eine Sonderaktion».
Das passiert in meiner Heimat. In einem Land, in dem nach dem Zweiten Weltkrieg das Mantra «Wenn es doch nur keinen Krieg gäbe!» galt. In einer Stadt wie St. Petersburg, das damals die schreckliche Belagerung überstanden hat.
Hoffen wir Russinnen und Russen nicht, dass sich etwas verändern wird? Natürlich! Die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber wir haben auch gesehen, was 2020 in Belarus passiert ist. Wie die Menschen monatelang friedlich protestiert haben, zusammengeschlagen wurden und zu Zehntausenden hinter Gittern sitzen. Wie ihre Leben zerstört wurden, während Lukaschenkos Polizeistaat weiter besteht.
Auch in Russland gingen in den letzten Jahren immer wieder Tausende auf die Strasse. Doch die Protestaktionen haben die Opposition praktisch ausgehöhlt: Viele kamen ins Gefängnis, andere flohen ins Ausland.
Putins Propaganda ist schon in den Schulbüchern
Ein Freund von mir ist in den letzten Jahren auf Demonstrationen gegangen und hat in den sozialen Netzwerken darüber geschrieben, wie Russland in den Abgrund fällt. Nachdem Putins neues Propaganda-Gesetz in Kraft getreten war, schrieb mir seine Mutter besorgt: «Ich bitte dich, sprich mit ihm. Er wird sonst ins Gefängnis gehen.»
Menschen, die in der Sowjetunion aufgewachsen sind, sind es gewohnt, dem Fernsehen zu gehorchen und zu vertrauen. Die Furcht vor staatlichen Repressionen ist seit Stalin tief im Gedächtnis verankert. Selbst die orthodoxe Religion, die das Herzstück der russischen Kultur ist, lehrt: «Jesus hat stillschweigend gelitten und fordert uns auf, das Gleiche zu tun.» Dazu kommt die wirtschaftliche Situation. Die Menschen haben kaum Zeit, über Politik nachzudenken, wenn sie zwei Jobs brauchen, um ihre Familien zu ernähren.
Das führt dazu, dass ein grosser Teil der Bevölkerung eher unpolitisch ist und nicht versteht, dass die Regierung dem Volk dienen soll und nicht umgekehrt. Und Putins Propaganda wirkt. Sie beginnt schon in den Schulen – es gibt nur noch «richtige» Geschichtsbücher.
Die Mehrheitsmeinung macht weniger Probleme
Es schmerzt mich, das zuzugeben, aber viele meiner Landsleute unterstützen Putins Aussenpolitik. Bedingungslose Loyalität zum Präsidenten wurde jahrelang gesät und eine echte Demokratie zerschlagen, bevor sie widerstandsfähig genug war.
Unter diesen schwierigen und beängstigenden Umständen ist es einfacher, sich an die Meinung der Mehrheit zu halten und weniger Probleme zu haben. Familien zerbrechen wegen unterschiedlicher Meinungen über die Ukraine.
Flüchtlingsjahr 2022
Trotzdem gehen mutige Russinnen und Russen weiterhin auf die Strasse. Die meisten von ihnen sind junge Menschen, die sich um die Zukunft sorgen. Bis zum 10. März hatten 1,2 Millionen Menschen eine Petition unterschrieben, in der ein Ende des Krieges gefordert wurde – die höchste Zahl von Unterschriften, die je von einer Initiative in der jüngeren Geschichte Russlands gesammelt wurde.
*Yana Belowa ist eine russische Journalistin. Sie hat das Land im vergangenen Jahr verlassen. Aus Sicherheitsgründen ist ihr Name geändert.