Geschichts-Professorin über Putins eigentliches Ziel
«Russland will die USA aus Europa verdrängen»

Putin würde die Nato am liebsten auflösen, sagt Kristina Spohr, Expertin für Internationale Geschichte. Dabei wollte sich Russland noch vor 30 Jahren in Europa integrieren.
Publiziert: 13.03.2022 um 21:40 Uhr
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1997 akzeptierte Russland die Osterweiterung der Nato: Russlands Präsident Boris Jelzin (l.) mit US-Präsident Bill Clinton am Nato-Gipfel in Paris.
Foto: Getty Images
Camilla Alabor

SonntagsBlick: Vor zwei Wochen hat Russland das Undenkbare getan und in Europa einen neuen Krieg gestartet. Erleben wir gerade das Ende einer Ära?
Kristina Spohr:
Ja, absolut. Wir hatten jetzt – mit Ausnahme des Jugoslawienkriegs – 30 Jahre Frieden auf dem Kontinent. Nach dem Ende des Kalten Krieges freute man sich darüber, dass künftig die Prinzipien der Helsinki-Schlussakte gelten würden: Souveränität, Unverletzlichkeit der Grenzen und das Recht auf freie Bündniswahl. Die Hoffnung, dass es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zu einer Wiedervereinigung Europas kommt, war gross. Nicht nur in Osteuropa, auch in Russland.

Tatsächlich?
Der damalige russische Präsident Boris Jelzin sagte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, man habe die Tyrannei hinter sich gelassen. Er sprach von Demokratie, Abrüstung und davon, dass man eine Partnerschaft mit den USA und der Nato möchte. Jelzin hatte die Hoffnung, Russland in den Westen zu integrieren.

Was geschah dann?
Jelzin kam innenpolitisch unter Druck, 1993 gab es eine Verfassungskrise, es herrschte Chaos. Die Tatsache, dass sich die Rote Armee aus den Satellitenstaaten zurückzog, wurde von russischen Nationalisten als Demütigung empfunden. In Osteuropa wiederum sorgten das politische Chaos und die nationalistischen Töne aus Russland für Angst. Die Osteuropäer wollten in die EU, doch dort stand erst einmal die Aufnahme von Finnland, Schweden und Österreich an. Also klopften sie auch an die Türe der Nato.

Persönlich

Kristina Spohr (48) ist Professorin fürInternationaleGeschichte an der London School of Economics. Die Deutsch-Finnin hat u. a. an der Cambridge University in England und an der Sciences Po in Paris studiert und als Research Fellow im Nato-Hauptquartier in Brüssel gearbeitet.

Kristina Spohr (48) ist Professorin fürInternationaleGeschichte an der London School of Economics. Die Deutsch-Finnin hat u. a. an der Cambridge University in England und an der Sciences Po in Paris studiert und als Research Fellow im Nato-Hauptquartier in Brüssel gearbeitet.

Russlands Präsident Putin sagt, der Westen habe das Land mit der Nato-Osterweiterung hintergangen. Was ist da dran?
Das ist reine Propaganda. Jelzin handelte die Nato-Russland-Grundakte von 1997 aus und trug die erste Runde der Nato-Osterweiterung mit. Allerdings hat er seinem Volk oft das Gegenteil dessen erzählt, was er mit dem Westen vereinbart hat. Daraus entwickelt sich eine gewisse Schizophrenie. Auch Putin hat erst einmal nichts gesagt, als die baltischen Staaten 2004 der Nato beitraten. Das begann erst später, insbesondere mit seiner Rede 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Damals sprach er vom «Verrat von 1990». Schon daran sieht man: Putin versucht, die Geschichte umzuschreiben, indem er den angeblichen Betrug immer wieder wiederholt – bis die Leute glauben, da sei was dran.

Zurück in die Gegenwart: Der Westen war sich überraschend einig darin, harte Sanktionen gegen Russland zu ergreifen. Gibt es künftig eine westliche Allianz, die auch in anderen Konflikten greifen wird?
Wir sehen, dass die EU viel stärker zusammensteht als vorher und sich eng mit den USA abspricht. Zudem hat Deutschland gesagt, es wolle mehr Verantwortung übernehmen und dazu beitragen, die Verteidigung zu stärken. Ob diesem Versprechen Taten folgen, wird sich allerdings erst noch zeigen müssen.

Wird sich Europa von Russland abwenden?
Der Krieg wird die Strategie der EU, von Öl und Gas loszukommen, sicher vorantreiben. Auch in anderen Sektoren werden sich die Unternehmen umorientieren, je länger der Krieg andauert.

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Was bedeuten die Sanktionen für das Verhältnis mit Peking: Wird sich auch China vom Westen unabhängiger machen wollen?
China verfolgt seit langem eine Politik der Unabhängigkeit, mit einer strikten Kontrolle der Wirtschaft, der eigenen Bevölkerung und seinem Projekt der Neuen Seidenstrasse. Was schwieriger werden dürfte, ist die Strategie des «Teilens und Herrschens», die China – und Russland – in Osteuropa verfolgen.

Sie haben in einem Artikel geschrieben, Putin wolle nichts weniger als die europäische Ordnung zerstören, die nach dem Ende des Kalten Krieges entstand. Wie meinen Sie das?
Russland will die USA aus Europa verdrängen und die Nato am liebsten auflösen. Putin hat sich in den Kopf gesetzt, die Ukraine einzuverleiben. Die Frage ist, was jetzt mit Weissrussland passiert, mit Moldawien und Georgien. Wenn Putin ein russisches Imperium wiederherstellen will, dann hat er genau das, von dem er sagt, er wolle es nicht: ein grösseres Russland, das direkt an die Nato-Ostgrenze stösst. Das ist ein Neuzeichnen der europäischen Karte – und damit eine krasse Missachtung dessen, wozu sich Russland im Rahmen der Istanbul-Deklaration von 1999 verpflichtet hat: die Achtung der «umfassenden und unteilbaren Sicherheit» jedes Mitgliedstaates.

Was bedeutet ein solches Szenario – die mögliche Annexion weiterer Staaten oder der Versuch dazu – für Europa?
Permanente Unsicherheit. Was just das ist, wovor man sich nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 fürchtete. Damals ging es darum, den Kontinent, auf dem jahrzehntelang Krieg und Unruhe geherrscht hatten, zu stabilisieren. Nun ist Europas Stabilität wieder in Gefahr.

Dabei ist Russland, wirtschaftlich gesehen, eher schwach: Seine Wirtschaftskraft ist gerade mal so gross wie jene von Holland und Belgien zusammen.
Genau. Es ist möglich, dass sich Russland – unter dem zusätzlichen Druck der westlichen Sanktionen – am Krieg überzieht. So wie es der Sowjetunion in Afghanistan passiert ist.

Wie lange kann das Regime den Krieg und die Repression gegen die eigene Bevölkerung aufrechterhalten?
Wir wissen nicht, wie schnell die Russen auf die Strasse gehen, wenn ihr Kühlschrank leer ist. Im Moment hat Putin seinen Militär- und Sicherheitsapparat fest im Griff; die russische Bevölkerung ist durch die strenge Zensur vom Krieg abgeschirmt. Laut Umfragen findet ein Grossteil der Russen die sogenannte Spezialoperation sogar gerechtfertigt. Wobei die Russen schon über einen langen Zeitraum desinformiert wurden in Bezug auf die Nato, auf Europa, auf die Ukraine. Zudem ist die Angst gross, im Gefängnis zu landen.

Kann Wladimir Putin noch gestoppt werden?
Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder jemand aus seiner Entourage tut etwas, was zu seinem politischen Ende führt – oder der Druck aus der Bevölkerung wird zu gross. Aber das kann noch Wochen und Monate dauern, denn der Sicherheitsapparat ist sehr mächtig. Und für Putin ist die Ukraine zu einer existenziellen Frage geworden. Er hat klar gesagt, dass er das Land haben und Russland zu seiner alten Stärke zurückführen will.

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