Wenn sich Christoph Blocher (81) und die von ihm verschmähte Classe politique einig sind, ist Vorsicht geboten. So auch bei den sogenannten Guten Diensten der Schweiz.
Das politische Schlagwort hat in der aktuellen Neutralitätsdebatte Hochkonjunktur. Quer durchs Parteienspektrum wird die Rolle des Landes als internationaler Vermittler beschworen. Der SVP-Doyen befürchtet, dass die Schweiz mit der Übernahme der Russland-Sanktionen ihre Guten Dienste «opfert», seine Partei führt sie als Argument gegen finanzielle Strafmassnahmen für den russischen Aggressor an.
Aussenminister Ignazio Cassis (60) wiederum beschwichtigte diese Woche das Parlament mit Support von FDP, Mitte und der Linken: Die Guten Dienste seien trotz Sanktionen möglich. Viele seiner Diplomaten aber bibbern bei dem Gedanken an einen Bedeutungsverlust der Schweiz. In der Verwaltung tobt ein Streit darüber, wie negativ sich der Platz auf Russlands Liste der «unfreundlichen Staaten» auswirkt. Eine seltsame Allianz von Rechtsbürgerlichen, Linken und Staatsangestellten stellt einen ganzen Politikbereich gleichsam unter Naturschutz. Und es drängt sich die Frage auf, wie es zu diesem Kult gekommen ist.
Letzten Sommer trafen sich Wladimir Putin (69) und Joe Biden (79) in Genf. Wäre der Weltenverlauf anders, wenn man damals in Helsinki geredet hätte? Natürlich nicht. Es geht um Standortmarketing und um Prestige; für einen Aussenminister gehört es zu den Sternstunden, wenn er einen «Friedensgipfel» ankündigen kann. Mit selbstloser Aufopferung haben Gute Dienste nur bedingt zu tun. Sonst gäbe es keinen internationalen Wettbewerb darum. Die Skandinavier mischen ganz vorne mit, Bern und Wien sowieso, neuerdings gibt es Konkurrenz von Singapur und Saudi-Arabien.
In der Schweiz hatte die Tradition auch mit dem schlechten Gewissen zu tun, weil man nicht Mitglied der Uno war und den Despoten lange als Tresor diente. Dieser moralische Ablasshandel ist heute wieder bei der SVP zu erkennen: Wir sind neutral und lassen die Russen in Ruhe. Dafür vermitteln wir.
Wer die öffentliche Wirkung der «aktiven Neutralität» besonders erkannt und gestärkt hat, ist die ehemalige EDA-Vorsteherin Micheline Calmy-Rey (76). Das Bild ihres Auftritts mit Handtasche an der koreanischen Demarkationslinie 2003 ging um die Welt.
Zuweilen wird die Funktion der Eidgenossenschaft überhöht. In der Nachkriegszeit gibt es zwei historisch relevante Schutzmachtmandate: in Kuba und im Iran.
Der heute wichtigste westliche Ansprechpartner Putins ist kein Vertreter eines neutralen Landes, sondern Emmanuel Macron, Präsident der Nato-Atommacht Frankreich. Wie volatil die internationalen Beziehungen sind, zeigt die Türkei: Am Donnerstag trafen sich die Aussenminister Russlands und der Ukraine in Antalya. 2015 hatten die türkischen Luftstreitkräfte im Syrienkrieg einen russischen Kampfjet abgeschossen. Heute wird das Land vom Kreml als neutral betrachtet, weil es die Sanktionen nicht mitträgt.