BLICK: Herr Ramm, schweizerisch-türkische Schüler spielen in Kursen für heimatkundliche Sprache und Kultur die Schlacht von 1915 in Gallipoli nach. Wird da Jungen Nationalismus eingetrichtert?
Christoph Ramm: Die Schlacht von Gallipoli ist ein nationaler Mythos, der in der Türkei nicht nur von den Anhängern Erdogans geteilt wird, sondern auch von seinen Gegnern. Gallipoli gilt als einer der Urpunkte, der 1922 zur Gründung der Republik führte, und natürlich wird die Schlacht in der nationalen Geschichtsschreibung überhöht.
Was ging denn historisch wirklich ab?
Das Osmanische Reich stand im Ersten Weltkrieg an der Seite des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns. In der Schlacht von Gallipoli 1915 versuchten die Alliierten, angeführt von den Briten, die Dardanellen zu stürmen, um den Zugang zu den Meerengen zwischen der Ägäis und dem Marmarameer zu erhalten und damit zur Hauptstadt Konstantinopel. Die osmanischen Truppen haben das erfolgreich verhindert.
War es der grösste Sieg der Osmanen im Ersten Weltkrieg?
Einer der wichtigsten. Ein wesentlicher Teil der Schlachtgeschichte ist natürlich, dass Mustafa Kemal, der spätere Atatürk, einer der erfolgreichen Kommandanten war und mit dieser Schlacht seinen Ruf als Kriegsheld begründete.
Welchen Stellenwert hat diese Schlacht heute in der türkischen Gesellschaft?
Sie ist fester Bestandteil der türkischen Widerstandsgeschichte gegen wirkliche oder angenommene Bevormundung durch den Westen. Es ist ja durchaus real, dass die siegreichen Grossmächte nach dem Ersten Weltkrieg versuchten, die Türkei aufzuteilen. Die Widerstandsgeschichte von Gallipoli setzt sich daher fort mit dem türkischen Befreiungskrieg von 1919 bis 1922 sowie der Gründung der türkischen Republik und der Ära Atatürk.
Welches Bild vom Osmanenreich wird mit der Schlacht vermittelt? Grossmachtsfantasien?
Die kemalistische Tradition war anfänglich, sich vom Osmanischen Reich zu distanzieren und die Erfolgsgeschichte der neugegründeten Republik Türkei hervorzuheben. Diese Sicht wurde allerdings schon früh aufgeweicht, eigentlich schon in den 1950er-Jahren. Damals nahmen sich Mitte-rechts-Parteien und Konservative das Osmanische Reich wieder zum Vorbild. Inzwischen ist das Mainstream, und natürlich feiert die AKP-Regierung unter Erdogan das Osmanische Reich nochmals stärker, um die Republik und den Kemalismus kleinzureden.
Dann sind Schlachtdarstellungen doch ein Propagandawerkzeug von Erdogan?
Die Regierung Erdogan hat die offizielle Erinnerungskultur zu Gallipoli nochmals sehr viel stärker forciert. Er weiss genau, dass diese Schlacht nicht nur die Islamisch-Konservativen anspricht, sondern auch Kemalisten und andere national gesinnte Kräfte. Erdogan nimmt mit diesen Schlachtfeiern gezielt auch Gruppen ins Visier, die nicht zu seiner Kernwählerschaft gehören.
Wie viel ist daran Folklore wie etwa bei Tellspielen an 1.-August-Feiern in der Schweiz?
Es hat sicher ein folkloristisches Element darin, Schlachten gehören ja zur Nationalgeschichte vieler Länder. Aber es wird klar auch Politik eingetrichtert: Zum Beispiel das nationalistische Bild, dass ein Türke keinen Freund habe ausser einen Türken. Oder die Idee, dass die Türken auf sich alleingestellt gegen die übermächtigen Feinde kämpfen müssten.
Die Schlacht wird aber auch mit Kemal Atatürk in Verbindung gebracht, sprich mit Öffnung gegen den Westen, mit Trennung von Staat und Religion?
Die Ideologie der AKP setzt sich aus sehr vielen unterschiedlichen Elementen zusammen. Kemal Atatürk gehört dazu, aber seine Funktion wird reduziert. Seine Reformen der späteren Zeit verschwinden, dagegen wird seine Rolle als Kriegsheld von Gallipoli überhöht. Damit ist er auch bei Erdogan-Anhängern anschlussfähig.
Gibt es in der Türkei überhaupt eine Nationalgeschichte, die nicht politisch uminterpretiert wird?
Die türkische Nationalgeschichte war immer politisch. Es gab in den 2000er-Jahren Versuche einer kritischeren Geschichtsschreibung, die sich auch mit dem Kemalismus oder dem Völkermord in Armenien kritisch auseinandersetzte.
Das ist passé?
Ja, die Historiker stehen zunehmend unter dem Druck der jetzigen autoritären Regierung.
Welche Folgen hat der Schweizer Protest gegen die türkischen HSK-Kurse? Stachelt er Erdogan-Anhänger noch mehr an?
Generell neigen nationalistisch gesinnte Politiker in der Türkei dazu, solche Reaktionen als anti-türkisch zu brandmarken und für den eigenen Wahlkampf zu nutzen. Das hat man ja letztes Jahr auch beim Referendum gesehen, als es darum ging, ob Veranstaltungen von türkischen Politikern in der Schweiz oder in Deutschland verboten werden.
Was halten Sie von diesen Schlachtspielen in HSK-Kursen?
Der HSK-Unterricht wird von der türkischen Botschaft organisiert und von türkischen Lehrpersonen gehalten, die im türkischen Bildungssystem sozialisiert wurden. Das kann zu Problemen führen, wenn das politische Klima in der Türkei, wie derzeit unter Erdogan, polarisiert und zunehmend nationalistisch aufgeheizt ist. In diesem Klima können die Lehrpersonen aus der Türkei unter stärkeren Druck geraten, sich loyal zur Regierung zu verhalten.