Selbst ein ehemaliger türkischer Staatspräsident kann nicht jeden «Gesprächswunsch» ausschlagen. Also traf sich Abdullah Gül Ende April mit dem Chef des türkischen Generalstabs und einem engen Vertrauten des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Nach drei Stunden wollte Gül – von 2007 bis 2014 türkischer Präsident – von einer Kandidatur am 24. Juni nichts mehr wissen.
Die Reaktionen auf das Gerücht, dass Erdogan seinen ehemaligen Weggefährten mit einer Erpressung aus dem Rennen um das höchste Amt gedrängt haben soll, offenbaren die tiefe Spaltung der türkischen Gesellschaft.
Bewundert von den einen, verachtet von den anderen
Erdogans Anhänger bewundern die kompromisslos rauen Umgangsformen, die der junge Istanbuler Recep im Hafenviertel Kasimpasa erlernte. Die Opposition hingegen hält den «Sultan vom Bosporus» für einen konservativ-islamischen Diktator – den Totengräber der türkischen Demokratie.
Nur wenige zweifeln daran, dass seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) nach dem 24. Juni wieder die stärkste Fraktion im türkischen Parlament stellen wird.
Wichtiger jedoch wird es sein, ob der zeitgleich zu wählende Präsident schon im ersten Urnengang bestimmt wird. Dann nämlich wäre die von Erdogan angestrebte Umwandlung der Türkei in ein Präsidialsystem endgültig vollzogen. Er wäre Staats- und Regierungschef zugleich.
So viel Macht in den Händen eines einzigen Politikers gab es seit dem Ende des Osmanischen Reichs 1923 noch nie.
Viele Oppositionelle und Journalisten sitzen im Knast
Seit dem missglückten Putsch im Sommer 2015 hat Erdogan den Staatsdienst, aber auch Justiz, Polizei, Armee, Schulen und Universitäten systematisch von mehr als hunderttausend angeblichen oder mutmasslichen Kritikern gesäubert. Unbotmässige Journalisten und Verleger sitzen als «Terror-Unterstützer» in Haft, ebenso die wortgewaltigsten seiner politischen Gegner. Viele Türken sind ins europäische Ausland geflohen.
All das, obwohl der konservativ-islamische Erdogan nach 15 Regierungsjahren eigentlich eine beispiellose Erfolgsbilanz vorweisen kann. Er hat Millionen von Arbeitsplätzen geschaffen, vor allem in den ärmeren Regionen des Landes. Die türkische Wirtschaft hat den Einbruch des Tourismus nach dem Putschversuch erstaunlich gut verkraftet. Weil Erdogan es bestens versteht, Nato, EU, Washington und Russland gegeneinander auszuspielen, ist die Türkei geopolitisch unberührbarer und unverzichtbarer Partner zugleich.
Doch schon für 2019 sagen viele Experten der Türkei den Beginn einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise voraus. Mit den vorgezogenen Neuwahlen wollte Erdogan jetzt die Ernte seiner Arbeit einfahren. Im letzten Augenblick.
Hoffen auf die mögliche Stichwahl
Leicht dürfte es nicht werden. Dem Plan des Präsidenten ist kein automatischer Erfolg garantiert. Denn auch wenn ihre Chancen minimal sind – die Opposition will einfach nicht aufgeben.
Für die links-nationalistische CHP steigt der angesehene ehemalige Physiklehrer Muharrem Ince in den Ring. Die ehemals ultrarechte Innenministerin Meral Aksener, gern auch als türkische Marine Le Pen beschrieben, hat gegen Erdogan die Gute Partei gegründet.
Und aus seiner Gefängniszelle heraus tritt Selahattin Demirtas, der «kurdische Obama», als Spitzenkandidat der HDP gegen den Präsidenten an.
Wie schon beim Verfassungsreferendum vor einem Jahr rechnet die Opposition auch am 24. Juni mit Wahlmanipulationen. Denn sollte Erdogan an diesem Tag die 50-Prozent-Marke verfehlen, müsste er in die Stichwahl. Dann aber könnte sich die Opposition auf einen gemeinsamen Gegen-Kandidaten einigen.
Und somit – dies der letzte Hoffnungsfunke für die liberal-demokratische Hälfte der Gesellschaft, wäre in der Türkei auf einmal wieder alles denkbar.