SonntagsBlick: Türkischstämmige Primarschüler mussten im Rahmen des Heimatkundeunterrichtes (HSK) antiwestliche Kriegsspiele aufführen. Wie kann so etwas passieren?
Thomas Kessler: In der Türkei stehen Wahlen an. Das Erdogan-Regime ist nicht interessiert an einer Integration seiner Landsleute bei uns, sondern an einer religiös-nationalen Mobilisierung. Deshalb die pro-osmanischen Aufführungen.
Der Heimatkundeunterricht soll ein Integrationsprojekt sein, die Lehrer Brückenbauer. Führt der türkische Staat dieses Konzept mit den Kinder-Kriegsspielen nicht völlig ad absurdum?
In der Tat. Wenn die Brückenbauer zu Propagandisten von Sultanats-Fantasien werden, dann bewirken die Kurse das Gegenteil: Sie fördern Parallelgesellschaften und spalten die türkische Gemeinschaft.
Und das unter dem Deckmantel von Schweizer Schulbehörden, organisiert in St. Galler Klassenzimmern.
Ein offensichtlicher Missbrauch. Der Kanton muss den Vorfall sehr ernst nehmen und genauestens überprüfen.
Haben die Schulbehörden nicht viel zu lange weggesehen? Türkei-Kenner warnen doch schon seit langem, dass die HSK-Kurse für Propaganda missbraucht werden könnten.
Die Sensibilität diesbezüglich ist eigentlich vorhanden. Aber die Schulbehörden müssen jetzt handeln. Das System des Heimatkunde-Unterrichts ist anfällig für Propaganda. Es weist Lücken auf.
Welche?
Es fehlen einheitliche Standards. Die Kantone müssen sich dringend zusammentun und verbindliche Regeln einführen. Nur so kann sichergestellt werden, dass alle Lehrer strikt die politische und religiöse Neutralität beachten.
Zurzeit gibt es faktisch keine Kontrolle der Inhalte. Im Falle der Türkei werden die Lehrer direkt von Ankara gestellt und finanziert, der Stundenplan von der türkischen Regierung diktiert.
Umso mehr braucht es klare Vereinbarungen über die Rahmenbedingungen und Inhalte der Kurse. Diese sollten proaktiv mit der türkischen Botschaft ausgehandelt und dann laufend überprüft werden, etwa mit unangemeldeten Schulbesuchen.
Reicht das?
Die Schulbehörden müssen einen engen Kontakt zu den Lehrern pflegen und eine Meldestelle für Reklamationen benennen. Neutrale Experten mit Sprach- und Kulturkenntnissen sollten das Schulmaterial laufend überprüfen.
Aber in Ankara herrscht ein unkontrollierbarer Autokrat. Kann der türkische Staat überhaupt ein verlässlicher Partner für den Unterricht von Schülern in der Schweiz sein?
Bis vor einigen Jahren lief die Zusammenarbeit mit der türkischen Botschaft eigentlich ganz gut. Doch die Entwicklungen in der türkischen Politik haben die Situation verändert. Klar ist: Die Kantone müssen Qualität und Neutralität einfordern. Wird das von Ankara nicht akzeptiert, muss die Zusammenarbeit gestoppt werden.
Kann der türkische Heimatkundeunterricht nicht einfach von den Schweizer Schulbehörden selbst organisiert werden?
Das wäre theoretisch eine Möglichkeit. Im Sinne des Gleichbehandlungsgebotes müsste man dieses System dann aber auch für sämtliche Kurse für Migranten anderer Ländern einführen.
Das würde viel Geld kosten. Gäbe es denn billigere Alternativen?
Ja. Mittelfristig muss der Unterricht auf Vereinsbasis organisiert werden. Nicht fremde Staaten sollten die Federführung haben, sondern private Trägerschaften, die in der Schweiz solide verwurzelt sind und zu Demokratie und Rechtsstaat stehen.
Als ehemaliger Integrationsbeauftragter des Kantons Basel-Stadt hat Thomas Kessler (57) die nationale Migrationspolitik mitgeprägt. Heute berät der Agronom Politiker in Sicherheitsfragen. Bis 2017 leitete er die Basler Radikalisierungs-Taskforce.
Als ehemaliger Integrationsbeauftragter des Kantons Basel-Stadt hat Thomas Kessler (57) die nationale Migrationspolitik mitgeprägt. Heute berät der Agronom Politiker in Sicherheitsfragen. Bis 2017 leitete er die Basler Radikalisierungs-Taskforce.
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