Türkischer Wissenschaftler floh aus seiner Heimat
«Erdogan und sein Umfeld sind in viele Verbrechen verwickelt»

Hartcan Mertcan im Interview.
Publiziert: 06.05.2018 um 15:38 Uhr
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Aktualisiert: 24.09.2018 um 20:24 Uhr
Eines ist sicher: «Ein Diktator erlaubt Wahlen nur, wenn er sie sicher und zu seinen Gunsten manipulieren kann. Erdogan und sein Umfeld sind in viele Verbrechen verwickelt», sagt Hakan Mertcan.
Foto: Zvg
Interview: Johannes von Dohnanyi

Professor Mertcan, am 24. Juni wird in der Türkei gewählt. Rechnen Sie mit Überraschungen?
Hakan Mertcan: Hoffen ist nicht verboten. Schliesslich gewann Erdogan auch das Verfassungsreferendum nur dank Manipulation.

Ist das nicht sehr naiv?
Eines ist sicher: Ein Diktator erlaubt Wahlen nur, wenn er sie sicher und zu seinen Gunsten manipulieren kann. Erdogan und sein Umfeld sind in viele Verbrechen verwickelt. In Syrien haben sie sogar den «Islamischen Staat» unterstützt. Sollten sie verlieren, landen sie vor Gericht. Vermutlich würden diese Kriminellen, um sich zu retten, die Türkei sogar in einen Bürgerkrieg stürzen.

Weil Sie einen Friedensappell türkischer Akademiker an Präsident Erdogan unterschrieben, mussten Sie nach Deutschland fliehen ...
... und verlor – ausser der Freiheit – alles. Aber die moderne türkische Gesellschaft insgesamt ist in Gefahr. Wie ich wurden mehr als hunderttausend Wissenschaftler, Lehrer, Richter und Beamte entlassen. Studenten, die demonstrieren, werden verhaftet. Der soziale Anpassungsdruck wächst.

Hat Erdogan repressive Politik also Erfolg?
Nur auf den ersten Blick. Viele Türken leisten Widerstand. «Wir sind noch da», stand am 1. Mai auf den Plakaten der Demonstranten.

Und das wollen die Türken mit Erdogans politischem Islam beenden?
«Die Türken» als monolithische Gruppe ist reine Propaganda. Wer den politischen Islam als «unsere» Geschichte, «unseren» Glauben und «unsere» Kultur beschreibt, vergisst die Millionen, die in der Türkei leben und einen anderen oder auch gar keinen Glauben haben. Vor ihrem politischen Gewicht haben Erdogan und seine Anhänger Angst.

Und wie erklären Sie die türkische Dauerangst vor den Kurden?
Die steckt sozusagen in der DNA der konservativ-islamischen Nationalisten. Ihr Geschichtsbild beruht allein auf drei ewigen «Wahrheiten»: Türken, Islamismus und Nationalismus.

Was meinen Sie damit?
Seit dem osmanischen Reich geht es allein um einen starken Staat. Nur er kann angeblich die Ehre der Türken schützen – auch gegen Einflüsse von aussen. Aus Angst vor der Forderung etwa nach einem eigenen Staat werden die Grundrechte der Kurden beschnitten.

Also gibt es keine neuen Friedensverhandlungen nach der Wahl?
Das bleibt unmöglich, solange neun Abgeordnete der demokratischen HDP und ihr Vorsitzender eingesperrt bleiben.

Heimliche Aufnahmen aus türkischen Gemeinden in Deutschland und der Schweiz zeigen Buben beim paramilitärischen Drill. Oder sind das nur harmlose patriotische Rituale?
Das ist keine Folklore. Die konservativ-nationalistischen Türken in Westeuropa bemühen sich, mit den islamistischen Gruppierungen zu verschmelzen. Unsere Gastländer dürfen nicht zulassen, dass diese Gruppen hier in Zukunft den Ton angeben.

Wen meinen Sie mit «diese Gruppen»?
Dahinter stecken – in enger Kooperation mit den türkischen Geheimdiensten – etwa die islamisch-nationalistischen «Jung-Osmanen». Gegen deren Ideologie hilft nur Bildung. Und Unterstützung für alle, die sich in den Zivilgesellschaften unserer Gastländer einbringen wollen.

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