Am 20. Januar 2017 stand Zarifa Adiba (23) mit ihrem Taktstock in Davos GR auf der Bühne. Es war der erste internationale Auftritt des ersten weiblichen Orchesters Afghanistans «Zohra». 30 Mädchen und Frauen zwischen 13 und 20 Jahren aus dem ganzen Land hatten Morddrohungen und Einschüchterungen getrotzt, um in der Schweiz spielen zu können. Ein paar Musikerinnen und Musiker aus der Schweiz verstärkten das Orchester.
Das Publikum, 3000 Staatsoberhäupter und Wirtschaftsbosse, waren begeistert. Es gab eine Standing Ovation. Viele hatten Tränen in den Augen, viele drückten der Dirigentin ihre Visitenkarte in die Hand und versprachen Hilfe.
Heimlicher Musikunterricht
In einem Beitrag der Thomson Reuters Stiftung, die sich für ein freies und gerechtes Leben einsetzt, schrieb Zarifa Adiba diese Woche über den Auftritt in Davos: «Warlords, Taliban, Islamischer Staat, Selbstmordattentate – ich kannte die Bilder, die viele Politiker, Banker, Ökonomen und Aktivisten von meinem Land hatten. Aber als wir anfingen, unsere Celli, Trommeln und traditionellen Instrumente wie den Rabab zu spielen, boten wir ein anderes Gesicht Afghanistans – eines der Schönheit und des Friedens.»
In Afghanistan musste sie ihr Hobby vor ihrer grossen Familie geheim halten. Nur ihre engsten Verwandten wussten davon. Eine Tante fuhr sie heimlich zur Musikschule, wie Zarifa Adiba schreibt. «Manchmal, wenn ich zum Üben ging, küsste ich die Hand meiner Mutter und dachte: Wenn ich gehe, komme ich vielleicht nicht mehr lebend zurück.»
TV-Sendung verriet sie
Doch der Auftritt in Davos veränderte Zarifa Adibas Leben. Ihre Liebe zur Musik wurde in ihrer Familie, ja in ganz Afghanistan, bekannt, weil Fernsehstationen weltweit über das Konzert und eine Podiumsdiskussion mit ihr berichteten. «Meine Onkel sagten mir, dass Musik nicht für Mädchen geeignet sei und holten mich aus der Musikschule raus.»
Auch in andern Familien von jungen Musikerinnen gab es Streit. Jugendliche und ihre Eltern wurden von Familienangehörigen verstossen und als «Schande» bezeichnet.
Als Zarifa Adiba in den vergangenen Tagen hörte, dass Kabul von Taliban-Kämpfern überrannt wurde, war sie gebrochen. «Es war der schlimmste Tag meines Lebens», schreibt sie.
Sorge um Familie und Freunde
Sie selber ist in Sicherheit. Seit drei Jahren studiert sie Internationale Politik in Kirgisistan. Doch sie macht sich grosse Sorgen um ihre Familie und ihre Kolleginnen, die alle in Afghanistan sind. Es ist bekannt, dass die Taliban mit Menschen, die nicht ihrer Tradition entsprechen, nicht zimperlich umgehen, sie sogar töten.
Zwei ihrer Freundinnen, so weiss sie, befanden sich am Flughafen unter den verzweifelten Menschen, die eine Ausreisemöglichkeit suchten. Sie schrieben ihr: «Du möchtest nicht sehen, wie hoffnungslos und ängstlich die Menschen sind.»
Albtraum Taliban
Die Machtübernahme der Taliban ist für sie ein Albtraum: «Ein Land ohne Musik, in dem Männer regieren und Mädchen nicht zur Schule gehen dürfen.» Die ganze Freude, die sie im Orchester erfahren hatte, sei nur noch ein Traum.
Dennoch will Zarifa Adiba nicht aufgeben. Sie schreibt: «Was immer auch passiert, ich werde meine Bratsche, meinen Bogen und meinen Taktstock als Werkzeuge zur Selbstbestimmung verwenden. Musik ist etwas Wunderschönes und kann, egal unter Umständen, zur Identität einer Nation werden.»