Der Albtraum beginnt von vorne: Mohammad R.* sitzt in seiner Wohnung in Spreitenbach AG. Er ist gefangen in einem Horrorfilm, der zeitgleich in seiner Heimat Afghanistan abläuft.
R. verfolgt das Drama auf dem Mobiltelefon. Seit Tagen schläft er nicht. Verzweiflung und Sorge halten ihn wach.
Es waren die Taliban, die vor Jahren seinen Vater ermordeten, weil Mohammad, damals Lehrer in der Provinz Ghasni, sich nicht einschüchtern liess. Er unterrichtete weiter Englisch und Mathe, obwohl die Islamisten befohlen hatten, ausschliesslich den Koran zu lehren.
Weil die sunnitischen Mörder schliesslich auch ihm nach dem Leben trachteten, flüchtete R., der zur Volksgruppe der schiitischen Hasara gehört, ins Nachbarland Iran. Mit dem grossen Flüchtlings-Treck von 2015 gelangte er nach Europa.
Er beantragte in der Schweiz Asyl, in diesem Jahr erhielt er seine Aufenthaltsbewilligung. Wenn er nicht im Ikea-Lager Nachtschicht arbeitet, unternimmt R. Wanderungen durch die Kantone, zu denen er bald auch seine Frau einladen möchte. Mohammad plant, sie per Familiennachzug in die Schweiz zu holen – es hätte gut sein können.
«Wir wurden verkauft»
Nun aber haben die Gotteskrieger und die US-Regierung andere Realitäten geschaffen. «Wir wurden verkauft. Afghanistan wurde verkauft», klagt Mohammad. Mutter Rahina*, Schwester Fatima*, Ehefrau Sahar* und sein jüngerer Bruder Ali* flohen vor Tagen aus Ghasni nach Kabul. Statt weniger Stunden wie sonst dauerte die Fahrt die ganze Nacht. Immer wieder mussten sie über Feldwege den Checkpoints der Taliban ausweichen. Mittlerweile sind alle bei Verwandten in Kabul untergetaucht.
Mohammad versucht einen Videoanruf in Kabul, die Verbindung via Whatsapp stockt, dann erscheint Schwester Fatima auf dem Handy-Bildschirm. Die junge Frau mit zwei Uni-Abschlüssen – als Krankenschwester und Managerin – versucht Haltung zu bewahren, dann fliessen doch die Tränen. Noch nie in ihrem Leben hat sie Taliban zu Gesicht bekommen, die 23-Jährige ist zu jung, um sich an die düstere Vergangenheit ihres Landes zu erinnern. «Ich möchte der Welt sagen: Wir Frauen wollen uns nicht den Taliban beugen. Wir wollen nicht eingesperrt werden.»
Am Tag zuvor wagte sie sich kurz nach draussen, zusammen mit dem 14-jährigen Bruder, obwohl Mohammad aus Spreitenbach sie ermahnt hatte, genau dies nicht zu tun! Taliban zu Fuss und auf Töffs beherrschten die Szenerie, berichtet sie. Sie fragte einen von ihnen nach den Plänen der Gotteskrieger. Er gab ihr keine Antwort.
Fatima und ihr Bruder schlugen sich in Richtung Flughafen durch, wollten mit eigenen Augen sehen, wie dort die Lage ist. Sie hatten nur das Nötigste dabei, einen Rucksack, ein Kopftuch, Wasser und Brot. Am Flughafen erwarteten sie wüste Szenen. «Die Taliban schossen um sich», sagt Fatima. Sie bekamen Angst, machten kehrt.
Fremde Kämpfer aus Pakistan
Nun sitzt die Familie wieder in ihrem Versteck. Es mehren sich Berichte, dass die Gotteskrieger von Tür zu Tür gehen, auf der Suche nach Kollaborateuren. «Wenn die Taliban erfahren, dass ich in der Schweiz bin, würden sie meine Leute als Geiseln nehmen oder töten», sagt Mohammad. Niemand aus seiner Familie glaubt den sanften Tönen der Kämpfer: «Sie geben sich brav, und nach einem Jahr knöpfen sie sich Minderheiten wie uns Hasara vor.»
Mutter Rahina erscheint auf dem Bildschirm. Die alte Frau ist verzweifelt, sie musste alles zurücklassen: das Haus, die Tiere, fast sämtliche Kleider. Es sei noch viel schlimmer als früher. Unter den Taliban seien diesmal viel mehr Fremde aus Pakistan, sagt sie.
Videos, die R. in Spreitenbach erreichen, lassen das Schlimmste erahnen. Zu sehen sind betäubte und offenbar nach Pakistan verschleppte Mädchen, Gräueltaten gegen die Bevölkerung, Aufnahmen ermordeter Menschen ...
Schweizer Behördenirrsinn
Nun blickt Sahar in die Kamera, Mohammads Frau. «Ich habe hier keine Zukunft, es ist wie im Gefängnis», sagt sie. Alle weinen, bedrängen ihn, nach Kabul zu kommen. Aber das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Der jüngere Bruder würde lieber kämpfen, als sich zu verstecken. Das ist zu viel – nun weint auch Mohammad: «Ich bin der Älteste der Familie, ich müsste dort sein.»
Er starrt auf die Formulare vor sich. Für die Einreise seiner Frau fordert die Schweiz irrwitzig viele Dokumente. So soll er Urkunden der verstorbenen Schwiegereltern aus den Taliban-Gebieten beschaffen. Das Asylverfahren stellt absurde Forderungen, die kaum zu erfüllen sind. Dennoch will der Mann in Spreitenbach nicht aufhören zu hoffen. Etwa darauf, dass die Schweiz, wie im Syrienkrieg geschehen, vereinfachte Besucher-Visa für Familien ausstellt. Nur will Justizministerin Karin Keller-Sutter (57) davon nichts wissen.
«Schweiz, bitte hilf uns!», fleht die Schwester noch. Dann bricht die Verbindung nach Kabul ab.
* Name geändert