Afghanistan wird zum «Islamischen Emirat». Dient das Land schon bald wieder als Schutzmacht für Terrorgruppen wie Al Kaida?
Peter Neumann: Unmittelbar glaube ich das nicht. Die Taliban werden nicht gleich zu Beginn den Fehler wiederholen, den sie in den Neunzigerjahren begangen haben. Damals holten sie sich systematisch internationale Terrorgruppen ins Land.
Das führte dazu, dass 2001 die Amerikaner einmarschierten.
Genau. Dass sie Osama bin Laden und Al Kaida Unterschlupf gewährten, wurde den Taliban zum Verhängnis. Das wissen sie.
Unmittelbar droht also kein Terrorstaat Afghanistan. Und längerfristig?
Entscheidend ist, wie sich die Machtverhältnisse innerhalb der Taliban entwickeln. Diejenigen, die im Moment das Sagen haben, sind pragmatisch orientiert. Sie geben sich moderat und versuchen, ein positives Bild von sich für die internationale Gemeinschaft zu schaffen.
Nette Taliban?
Auch die Pragmatiker sind Fundamentalisten, da dürfen wir uns nicht täuschen lassen. Ihre Agenda bleibt extrem. Selbst die fortschrittlichste Vorstellung innerhalb der Taliban wäre ein riesiger Rückschritt für Frauen in Afghanistan. Eine aktive Rolle für sie im öffentlichen Raum etwa werden auch die Pragmatiker kaum zulassen.
Dabei haben die Taliban genau das beteuert. An einer Medienkonferenz vom Dienstag sagte ein Sprecher: «Wir wollen, dass Frauen arbeiten – bei der Polizei, im Gesundheitswesen und in anderen Bereichen. Wir brauchen die Frauen dort, denn sie sind Teil unserer Gesellschaft.»
Wünschenswert wäre das natürlich. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass das Realität wird. Moderat sind die Pragmatiker eher in ihrer Methode. Sie sind zurückhaltender geworden bei der Umsetzung ihrer Überzeugungen.
Warum?
Aus zwei Gründen. Die älteren Taliban erinnern sich noch gut an ihr Scheitern vor 20 Jahren. Daraus haben sie gelernt. Sie sind vorsichtiger geworden.
Und der zweite Grund?
Kalkül. Sie schielen auf die internationale Gemeinschaft. Sie wollen Beziehungen zu anderen Ländern pflegen, hoffen auf Investitionen – zum Beispiel aus China. Kooperieren die Taliban mit internationalen Terrorgruppen, können sie das vergessen. Kommt hinzu: Durch den erdrutschartigen Eroberungsfeldzug fühlen sich die Taliban gerade sehr stark. Sie halten es gar nicht für nötig, mit solchen Gruppierungen zusammenzuarbeiten.
Das sind die Pragmatiker. Wen gibt es noch?
Die Hardliner. Junge Kommandeure, die gekämpft haben, denen die internationale Gemeinschaft egal ist. Sie sagen: «Wir wollen unser volles Programm durchsetzen – und zwar sofort!» Sie sind eher offen für eine Zusammenarbeit mit Gruppen wie Al Kaida. Momentan sieht es jedoch eher danach aus, als ob die Pragmatiker die Oberhand ehalten.
Peter Neumann (46) gehört zu den weltweit renommiertesten Experten für islamistischen Terrorismus. Er berät die Vereinten Nationen sowie Regierungen. Der Deutsche studierte Politikwissenschaften in Berlin, Belfast und London. Bis 2018 war er Direktor des International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR) am Londoner King’s College. Als Professor für Security Studies beobachtet er unter anderem Social-Media-Profile von jungen Dschihadisten.
Peter Neumann (46) gehört zu den weltweit renommiertesten Experten für islamistischen Terrorismus. Er berät die Vereinten Nationen sowie Regierungen. Der Deutsche studierte Politikwissenschaften in Berlin, Belfast und London. Bis 2018 war er Direktor des International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR) am Londoner King’s College. Als Professor für Security Studies beobachtet er unter anderem Social-Media-Profile von jungen Dschihadisten.
Dann muss sich der Westen vorerst keine Sorgen um die eigene Sicherheit machen?
Es gibt noch einen anderen Faktor, den wir nicht unterschätzen dürfen.
Welchen?
Der symbolische. Für Islamisten auf der ganzen Welt ist der Sieg der Taliban ein Erweckungserlebnis. Seit 2018 leidet die dschihadistische Szene quasi an einer kollektiven Depression. Erfolge blieben aus, es fehlten grössere Projekte. Und jetzt der Sieg in Afghanistan. Gruppierungen, die dem Islamischen Staat oder Al Kaida nahestehen, schlachten die Machtübernahme bereits propagandistisch aus. Das Motto ist: Schaut, wir gewinnen wieder!
Die Entwicklungen in Afghanistan strahlen also auch auf die Salafistenszene in Europa aus?
Klar. Auch hiesige Islamisten feiern den Sieg geradezu euphorisch. Sie fühlen sich neu motiviert, sind im Aufwind. Die propagandistische Wirkung der Eroberung von Kabul ist enorm.
Steigt jetzt auch die Terrorgefahr?
Minimal wohl schon. Psychisch labile Einzeltäter könnten versuchen, zur Tat zu schreiten. Oder selbst in den Kampf zu ziehen, zum Beispiel in den Irak oder nach Syrien.
Und neu auch nach Afghanistan.
Das glaube ich weniger. Die Taliban sind nicht der IS. Sie sind eine paschtunische Stammesmiliz ohne Ambitionen auf ein globales Kalifat. Sie wollen bloss da regieren, wo es Paschtunen gibt – also vor allem in Afghanistan und Pakistan.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat bereits am Tag nach der Machtübernahme der Taliban vor einem Wiedererstarken des internationalen Terrorismus gewarnt. Was muss die internationale Gemeinschaft jetzt tun?
Es geht nun erst einmal darum, mit den humanitären Folgen der Krise fertigzuwerden. Man sollte sehr intensiv die Nachbarländer Afghanistans unterstützen. Dort, wo in den nächsten Monaten viele Flüchtlinge ankommen werden. Auch aus Eigeninteresse. Denn ist die Situation der flüchtenden Menschen dort einigermassen erträglich, müssen sie nicht nach Europa weiterziehen.
Und sicherheitspolitisch?
Da sollten sich vor allem die Geheimdienste ernsthafte Fragen stellen. Sämtliche westliche Nachrichtendienste haben versagt. Sie haben das Tempo der Machtübernahme nicht kommen sehen und die Handlungsfähigkeit der Taliban völlig unterschätzt.