Dieses Papier beschönigt nichts. Allein der Titel des elfseitigen Online-Dokuments ist eindeutig: «Leaving Afghanistan». Zu Deutsch: Afghanistan verlassen. Verfasst haben es Dutzende anonyme Autoren – Mitarbeitende von Behörden, NGOs, Universitäten. Adressiert ist es an alle, die rauswollen – und können: US-Bürger, Botschaftspersonal aus aller Welt, internationale Helfer, Ortskräfte, Menschen, die vor dem Taliban-Terror zu fliehen versuchen.
Das Papier, das in Uno-, in Diplomatenkreisen, vor allem aber in Kabul selbst kursiert, schildert die derzeitigen Kräfteverhältnisse vor Ort. Die Taliban hätten sich mit den Nato-Streitkräften geeinigt, um in Kabul «eine sichere Passage» zum internationalen Flughafen Hamid Karzai zu gewährleisten. «Uns ist bewusst, dass sich die Taliban nicht an die Vereinbarung halten. Unter der Leitung des US-Aussenministeriums wurden die Verhandlungen darum wiederaufgenommen.» Britische und französische Streitkräfte versuchten, ihre Leute aus der Stadt zu evakuieren, heisst es weiter. «Die USA können dies nicht tun, da dies gegen die Vereinbarung mit den Taliban verstösst und die derzeitige Kapazität der US-Truppen vor Ort übersteigt.»
Editorial zur Lage in Afghanistan
Der Ton macht deutlich: Hier geht es ums nackte Überleben. Es gilt, irgendwie das Nadelöhr Kabuler Flughafen zu erreichen: «Machen Sie sich so schnell wie möglich auf den Weg zum Flughafen. Sie müssen vor der Ausgangssperre dort sein (21 bis 6 Uhr). Die US-Regierung kann nicht für eine sichere Fahrt zum Flughafen garantieren.» Die US-Regierung rate zudem, die Ausgangssperre einzuhalten und die Taliban als lokale Behörde anzuerkennen. Rückholversuche für Personen, die Kabul nicht erreichen können, seien unwahrscheinlich.
Chaos und Verzweiflung
Die Lage ist chaotisch, wechselt stündlich. Die Autoren haben auch eine Karte mit Taliban-Checkpoints erstellt. Ob vor der deutschen Botschaft oder den Hauptverkehrsachsen: An 90 Stellen blockieren und kontrollieren die Islamisten die Wege. Die Verfasser warnen: «Geben Sie Ihre genauen Koordinaten durch. Das wirkliche Strassennetz in Kabul deckt sich nicht mit den offiziellen Karten, was bedeutet, dass die Truppen Sie nicht finden können.»
Auch am Flughafen angekommen, ist der Weg in die Freiheit noch weit. Die Versorgungslage mit dem Allernötigsten sei mittlerweile prekär. So heisst es in dem Papier: «Achtung, im militärischen Bereich des Flughafens stehen nur begrenzt Wasser und Lebensmittel zur Verfügung.»
Die Flüge würden nach dem «First come, first served»-Prinzip vergeben. Wer zuerst kommt, fliegt zuerst. «Ihr Flughafenzugangs-Pass ist Ihre Lebensader: Es wird schwierig, ohne ihn Zutritt zum Flughafen zu erhalten. Bringen Sie so wenig wie möglich mit. Keine Haustiere! Nur ein Handgepäck! Manchmal ist der Platz im Flugzeug so überfüllt, dass auch das Handgepäck zurückbleibt.»
Nach diesen Überlebenstipps listet das Dokument auf, wer überhaupt alles evakuiert wird. 23 verschiedene Länder werden aufgelistet – von Kanada über China bis Neuseeland. Zu jedem Staat wird festgehalten, wen die betreffende Regierung evakuieren möchte. Auch die Regieanweisungen der Schweiz werden angegeben.
«Swiss confirmed they will only take small numbers», steht in dem Dokument. Die Strategie des Bundesrats ist also in Kabul angekommen. Nämlich dass nur die lokalen Mitarbeiter und deren engste Kernfamilie eine Chance auf einen Flug haben.
Schweizer warten auf Rettung
Derweil warten noch immer etliche Schweizer Staatsangehörige und lokales Personal mit Familien auf ihre Evakuierung. Die Hoffnung auf eine schnelle Ausreise schwindet mit jedem Tag. So wurde ein für gestern Samstag geplanter Charterflug einer Swiss-Maschine nach Taschkent kurzfristig abgesagt. Der Flug in die usbekische Hauptstadt war vorgesehen, um dort Menschen abzuholen, die zuvor aus Kabul evakuiert wurden.
Laut Informationen des Aussendepartements (EDA) habe sich die Sicherheitslage um den Flughafen Kabul am Samstag «deutlich verschlechtert». Eine grosse Anzahl von Menschen vor dem Flughafen und teilweise gewalttätige Ausschreitungen verhinderten im Moment den Zugang zum Flughafen in Kabul. «Deshalb können aktuell nur wenige Personen von Kabul nach Taschkent ausgeflogen werden», teilte das EDA am Samstag mit. Der für die Schweiz wichtige Partner Deutschland sagte ebenfalls geplante Flüge nach Taschkent ab.
Insgesamt hätten bisher 19 Personen mit einem Schweizer Pass oder einer Aufenthaltsbewilligung ausreisen können, sagte Hans-Peter Lenz, Chef des Krisenmanagement-Zentrums des EDA, am Freitag vor den Medien in Bern. Eine Person sei über den Landweg nach Pakistan gelangt, alle anderen seien über den Flughafen der afghanischen Hauptstadt ausgereist. Von den 232 afghanischen Helfern und ihren Kernfamilien ist erst eine Person im Flughafen Kabul angekommen.
Das sei insbesondere auch deshalb beunruhigend, weil sich aktuell die Meldungen aus Afghanistan mehren, wonach die Taliban «westliche Kollaborateure» in den Städten verhaften oder gar töten, so Lenz.