Tagebuch einer jungen Afghanin in Kabul
«Hier habe ich keine Zukunft mehr»

In berührenden Zeilen schildert die junge Afghanin Fariba*, wie sie die Tage nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul erlebt.
Publiziert: 22.08.2021 um 02:06 Uhr
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Aktualisiert: 22.08.2021 um 13:58 Uhr
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Seit dem Einmarsch der Taliban in Kabul ist alles anders.
Foto: AP
Dana Liechti

Nach dem Einmarsch der Taliban vor einer Woche ist in der afghanischen Hauptstadt Kabul nichts mehr wie vorher. Es herrscht Chaos, Tausende versuchen zu fliehen. Vor allem Frauen bangen um ihre Freiheit, ihre Rechte – und ihr Leben. Eine davon ist Fariba*. Die 29-Jährige lebt gemeinsam mit ihren Schwestern und ihren Eltern in Kabul und arbeitet als Pflegerin in einem Spital. Für SonntagsBlick hat sie in einem Tagebuch festgehalten, wie sie die Situation vor Ort erlebt.

Dienstag, 17. August

Das Gefühl, das ich und Tausende Frauen und Mädchen im Land haben, ist unbeschreiblich. Um diesen Schmerz zu verstehen, müssten Sie hier sein. Ich liebe mein Land. Das Leben hier ist schön. Ich liebe die Arbeit mit den Kindern im Krankenhaus. Aber jetzt, mit der Ankunft des neuen Regimes – der Taliban –, glaube ich, dass ich alle meine Träume verloren habe. Wenn ich sie sehe mit den Waffen in ihren Händen, zittert mein ganzer Körper vor Stress. Ich werde weiter für meine Patienten kämpfen. Ich frage mich, ob ich zur Arbeit gehen oder zu Hause bleiben soll. Aber nein – ich habe einen Eid abgelegt, immer für meine Patientinnen da zu sein. Zu Hause zu bleiben, würde bedeuten, dass ich ein Feigling bin. Ich beschliesse also, wie in den Tagen zuvor, zur Arbeit zu gehen. Als ich mich der Universität Kabul nähere, sind die früheren Wachen nicht mehr da. An ihrer Stelle stehen jetzt Taliban-Soldaten. Jetzt gibt es kein Zurück mehr – ich zittere wieder am ganzen Körper. Ich habe Angst vor den Taliban. Und Tausende Fragen im Kopf. Wie soll es jetzt weitergehen? Welche Regeln wollen sie durchsetzen? Es gibt Gerüchte, dass die Taliban jedes Haus durchsuchen, um Mädchen und junge Frauen zu zwingen, ihre Krieger zu heiraten. Auch die Vorschrift der Taliban, dass Frauen ohne männliche Begleitung das Haus nicht verlassen dürfen, macht uns Sorgen. Wie können wir ab jetzt einkaufen gehen oder uns normal in der Öffentlichkeit zeigen? Mein Vater kann uns ja kaum alle gleichzeitig zur Universität oder zur Arbeit bringen.

Mittwoch, 18. August

Auch dieser Tag hat mit Ängsten, einem schlechten Bauchgefühl und innerer Unruhe begonnen. Nichts ist wie vorher. Niemand trägt mehr die normalen Arbeitskleider. Weder die Wachen noch die Ärzte, weder ich noch meine Teamkolleginnen und -kollegen. Sie alle müssen jetzt die afghanische Tracht anziehen, nur sie akzeptieren die Taliban. Als ich heute am Arbeitsplatz ankam, sagte man mir, dass die Taliban unsere Wachen zwangen, ihre Waffen abzugeben. Und dass alle unsere Mitarbeiter mit doppelter Staatsangehörigkeit das Land verlassen haben. Nur ich und eine Teamkollegin sind zur Arbeit erschienen. Alle anderen haben Angst vor den Taliban und sind zu Hause geblieben. Es herrscht eine ungewöhnliche Stille im Spital. Trotzdem versuche ich, stark zu sein und meine Arbeit fortzusetzen. Die Angst lässt mich aber keine Minute zur Ruhe kommen. Meine Mutter ruft mich mehrmals an. Ich sage ihr, sie solle sich keine Sorgen machen. Heute waren die Taliban auch in unserem Spital – zum Glück bin ich ihnen nicht begegnet. Der Arbeitstag hat mit viel Aufregung und Angst geendet. Diese Gefühle hören auch nicht auf, wenn ich zu Hause bin. Mal schauen, was morgen alles passiert.

Donnerstag, 19. August

Ich muss das Land verlassen. Hier habe ich keine Zukunft mehr. Ich gehe zur französischen Botschaft, um ein Asylgesuch zu stellen. Zu meiner Enttäuschung ist dort aber eine grosse Menschenmenge versammelt – und man gibt uns keine Auskunft. Die Taliban sind vor der Botschaft präsent und schiessen in die Luft. Einen Mann haben sie ausgepeitscht. Meine Hoffnungen, das Land verlassen zu können, sind geplatzt. In dem Moment will ich nur noch mein Leben retten. Ich laufe mit Tränen in den Augen nach Hause. Dort ist es im Moment noch sicher. Aber wie lange noch?

Freitag, 20. August

Heute ist das Arbeitsklima im Spital sehr bedrückt. Das ganze Team sucht nach Möglichkeiten, das Land zu verlassen. Alle sind verzweifelt, haben im Moment nur eines im Kopf: Wie können wir flüchten? Viele sind schon gegangen. Wir haben wenige Patienten. Alle denken, dass unser Spital schliessen wird.

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Samstag, 21. August

Seit einer Woche können wir nachts nicht richtig schlafen und haben Albträume. Die Gespräche darüber, dass unser Spital vielleicht bald geschlossen wird, tun mir weh. Unser Leben ist bedroht, weil wir für das Spital arbeiten. Ich versuche, meine Angstgefühle unter Kontrolle zu bringen, und fange mit meiner Arbeit an. Nachdem ich ein paar Patientinnen und Patienten behandelt habe, begegne ich einer Frau. Sie wurde von den Taliban geschlagen. Ihr Ohr blutet stark. Sie spricht kein Wort mit mir, weint nur andauernd. Ihre Hilflosigkeit berührt mich sehr. Sie verliert ihr Ohr, ich kann es nicht retten. Oh Allah, wie soll ich unter diesen psychischen Herausforderungen meinen Patientinnen helfen?

*Name geändert

«Ich habe Angst um meine Zukunft»
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Lehrerin über Lage in Kabul:«Ich habe Angst um meine Zukunft»
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