Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Afghanistan zeigt, was Hass und Angst bewirken. Versuchen wir es nun mit Grossherzigkeit

Aus Afghanistan müssen wir lernen, dass mit Hass und Angst kein Staat zu machen ist. Versuchen wir es darum einmal ganz anders: Mit Grosszügigkeit und Engagement für die Opfer der Taliban.
Publiziert: 22.08.2021 um 02:07 Uhr

Über die Zeit nach den Taliban sollte man sich vorerst nicht den Kopf zermartern. So steht es in einem Dokument der US-Regierung vom Oktober 2001. Was zähle, sei allein der Sieg über Al Kaida und die Taliban – was auf sie folge, darüber könne man sich später immer noch Gedanken machen.

«Afghanistan» begann als militärischer Rachefeldzug nach dem Terror vom 11. September 2001. Afghanistan endet als militärisches Fiasko und menschliche Katastrophe. Mehr als eine Billion Dollar hat dieses desaströse Abenteuer gekostet – 85 Prozent davon flossen in Militärausgaben. «Hätte man mehr für den Aufbau sozialer Strukturen (AHV, ALV, Gesundheitswesen) verwendet, so würde die Situation heute anders aussehen», schreibt mir Paul Bucherer, Stiftungsleiter der Bibliotheca Afghanica in Bubendorf im Kanton Baselland, des grössten Schatzes an schriftlichen Dokumenten über Afghanistan in Europa.

Barack Obama schildert in seinen Memoiren «Ein verheissenes Land» Debatten seines Kabinetts im Herbst 2009. Es ging um die Frage, ob die USA in Afghanistan nicht länger ausschliesslich aufs Militärische fokussieren und sich stattdessen auch um bessere Lebensbedingungen für die Bevölkerung kümmern sollten. Präsident Obama witterte hinter diesem Vorschlag allerdings eine Taktik des Verteidigungsministeriums, um noch mehr Truppen an den Hindukusch zu entsenden. Er befürchtete, die USA würden dann überhaupt nicht mehr aus Afghanistan herauskommen – und lehnte ab.

Einer unterstützte ihn ganz besonders in dieser harten Haltung. Es war der damalige Vizepräsident Joe Biden.

Bundesrätin Karin Keller-Sutter betonte diese Woche, die Schweiz könne jetzt nicht einfach – wie SP und Grüne es fordern – 10 000 Afghanen in die Schweiz holen. Sie verweist auf das sogenannte Resettlement-Verfahren: Zunächst muss das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen herausfinden, wer besonders schutzbedürftig und gefährdet ist. Erst in einem zweiten Schritt können diese Menschen beispielsweise aus einem Camp im Iran oder aus Pakistan in ein westliches Land geflogen werden.

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Die Prioritäten, auf die unsere Asylministerin da verweist, lassen sich natürlich nachvollziehen und sind im Grundsatz völlig berechtigt. Um Zehntausenden Asyl zu gewähren, braucht es ein koordiniertes, wohlüberlegtes Vorgehen. Der Haken dabei ist, dass dieses Resettlement (engl. für Neuansiedlung) bei früheren Krisen nie richtig funktioniert hat. Es handelte sich grösstenteils eher um ein zynisches Mikadospiel der Staaten: Viele wollen überhaupt keine Flüchtlinge aufnehmen, die anderen sind darauf bedacht, die Kontingente möglichst klein zu halten. Keine Regierung möchte als besonders flüchtlingsfreundlich erscheinen. Das ist denn auch der Grund dafür, warum es so schreckliche Orte gibt wie das Camp Moria auf der griechischen Insel Lesbos, wo derzeit 6000 Gefangene vor sich hinvegetieren.


Inzwischen diskutiert die ganze Welt darüber, ob der Abzug der Truppen aus Afghanistan vorausschauender und sicherer zu organisieren gewesen wäre. Was wusste wer zu welchem Zeitpunkt über welche Gefahren? In Wahrheit jedoch sollte uns Afghanistan vor allem eines lehren: Wichtig ist ein beherztes Engagement für die Afghaninnen und Afghanen auf der Flucht. Es braucht dieses Engagement auch dann, wenn Afghanistan nicht mehr in den Schlagzeilen steht und das Resettlement-Programm der Vereinten Nationen endlich anlaufen kann.

In drei Wochen jähren sich die Terroranschläge von New York zum 20. Mal. Der 11. September war ein Tag des Hasses, der Aggression und der Angst – der seinerseits nur Hass, Aggression und Angst nach sich zog. Weil diese negativen Emotionen so offensichtlich keinen Erfolg gezeitigt haben, wäre es an der Zeit, es heute einmal ganz anders zu versuchen: mit Ruhe, mit Stärke und mit Grossherzigkeit für die Opfer der Taliban.

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