Kriegspräsident Wladimir Putin (70) wird heute Dienstag dort in Person auftreten, wo vor wenigen Tagen zwei Drohnen über dem Kreml abgeschossen wurden. Am 3. Mai erhellten Explosionen über der Kuppel des Senatspalasts den Nachthimmel. Moskau machte Kiew für den angeblichen Anschlagsversuch auf Putin verantwortlich. Die Ukraine spricht von einer russischen Inszenierung.
Nur von der Kreml-Mauer getrennt, liegt der Senatspalast gleich hinter dem Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz – wo die Tribüne für Putin steht und der Kreml-Kriegsführer die alljährliche Siegesparade zum 9. Mai abnimmt. Russland feiert den 78. Jahrestag des sowjetischen Triumphs über Nazi-Deutschland im Jahr 1945.
Nur, von Triumph ist derzeit im Land wenig zu spüren. Putin ringt um Kontrolle, auch über die eigene Bevölkerung. «Die Nervosität ist grösser als je zuvor», zitiert der britische «Guardian» aus dem Moskauer Bürgermeister-Büro. Der 9. Mai wäre der ideale Tag, um den Sieg über die Ukraine zu verkünden. Stattdessen gibt Putin eine Parallelwelt vor und schiebt einen gesichtswahrenden Ausweg aus der Ukraine-Misere auf.
Putin hält Rede
Die 9.-Mai-Feierlichkeiten finden unter noch strengeren Sicherheitsvorkehrungen als im Vorjahr statt, überschattet vom Angriffskrieg gegen die Ukraine, der für Moskau keine Erfolgsmeldungen von der Front bringt. Zudem bestätigte die Ukraine eben, Russen überall auf der Welt zu töten. Ein Kriegsführer aber zeigt keine Anzeichen von Schwäche, Angst oder Paranoia. Flankiert von den Staatsoberhäuptern der alliierten GUS-Nachfolgestaaten der Sowjetunion, wird der russische Staatschef die Parade abnehmen und eine Rede halten.
«Die Parade selbst wird um 10 Uhr (9 Uhr MESZ) beginnen», sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow (55) am Montag im Fernsehsender «Rossija-1». «Der Präsident wird eine Rede halten.» Daraufhin folgen die Kranzniederlegungen am Grab des Unbekannten Soldaten, mit anschliessendem informellem Frühstück der GUS-Führer.
Es wird erwartet, dass sich Putin zu den bald 15 Monate anhaltenden Angriffen auf die Ukraine äussert. Er will dem Land zeigen, dass er immer noch stark ist und alles unter Kontrolle hat. Dass Russland wie im Zweiten Weltkrieg den Faschismus besiege, so die Propaganda.
Angst im Herzen von Russlands Machtapparat
Stärke will Putin auch mit der Präsenz der ausländischen Gäste demonstrieren. Deren Besuch wurde erst kurzfristig bestätigt. Neben den Staats- und Regierungschefs der Ex-Sowjetrepubliken Kasachstan, Tadschikistan, Kirgistan, Usbekistan und Armenien nimmt auch der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko (68) an der Militärparade zum Sieg über Hitler-Deutschland teil. Der von Moskau politisch, wirtschaftlich und militärisch stark abhängige Lukaschenko gibt sich gegenüber Putin damit als extra loyaler Vasall.
Doch Putin kann den Ukraine-Krieg nicht ausblenden. Dieses Jahr wurde in Moskau der Traditionsmarsch «Unsterbliches Regiment» abgesagt, der gewöhnlich auf die Parade folgt. In mehreren Dutzend anderen russischen Städten wurden auch die 9.-Mai-Feiern wegen des hohen Sicherheitsrisikos gestrichen.
Auch der Rote Platz ist seit zwei Wochen für die Öffentlichkeit gesperrt, Strassen sind verbarrikadiert. Jüngste Drohnenangriffe und Sabotageakte auf russischem Boden lösten selbst im Herzen von Russlands Machtapparat Anflüge von Panik aus. Der Kreml ist so hermetisch wie möglich von der Aussenwelt abgeriegelt. Aber: Der Tag des Sieges muss stattfinden. Alles andere wäre Kapitulation.